Der Blässe steht der Tod in mancherlei Schattierung, doch vor allem imponiert frisches Blut auf weißem Laken und reinen Fassaden. Als befleckter Tempel präsentiert sich bereits zu Anfang der Reise ins Trauerland das Haus der heiligen Göttin Artemis, in dem des Agamemnons Tochter Iphigenie ihrem Schlacht-Handwerk gegen Eindringlinge nachgehen muss. In einer Adaption von Euripides’ „Iphigenie in Aulis“ führt das Ensemble des Deutsch-Griechischen Theaters in der Spielstätte des Ehrenfelder Urania Theaters die klassische Geschichte um Krieg, Götterverehrung, selbstlose Opferbereitschaft und Geschwisterliebe mit aktuellen Themen wie Flüchtlingsdramen und der Corona-Pandemie zusammen. Aus der Vermischung entsteht ein nicht minder tiefrotes Abbild des Untergangs der Spezies Mensch, die in beeindruckender Kreativität Hass, Intoleranz sowie Ignoranz zelebriert und wie keine andere Lebensform das Wort „Grausamkeit“ in schönsten Lettern niederzuschreiben vermag. Das epische Bühnenbild (Zezo Denekov) der Inszenierung umrahmt dabei majestätisch strahlend die dunkle Handlung einer zeitlosen Geschichte.
Im Metzger- beziehungsweise Chirurgengewand erfüllt die heimatverlorene Iphigenie als Priesterin den Willen der Staatsmacht. Mit Anmut und Vehemenz agiert Hauptdarstellerin Stella Veinoglou in der Rolle der einst dem Opfertod geweihten Prinzessin, die jede Bewegung, ja, jede Pause zu einem sinnlichen Erlebnis macht. Tanzend mit den Überresten von Leichnamen – abgetrennte Gliedmaßen liebkosend wie ein Baby in den Armen – verführt die Aktrice zur unheilvollen Hochzeit zwischen Tagtraum und Nachtmahr. Als ihr Bruder Orest (mitunter irritierend heiter gespielt von Antonis Michalopoulos) nach einem gerächten Vatermord mit Freund Pylades (trotz Maske hochcharismatisch dargestellt von Annika Weitershagen) ins Trauerland flüchtet, steht Iphigenie vor der Wahl, der Obrigkeit – und damit dem postulierten Wohl des Volkes – zu folgen oder die persönlichen Gefühle über das Ansinnen der Gesellschaft zu stellen. Daraus folgt die Idee von Entscheidungsfreiheit und deren Konsequenzen. Dürfen Widersacher eines Regimes Verständnis und Zuflucht finden? Welche möglichen Gefahren gehen von der des Mörders anhaftenden Seuche aus? Sollte man sich aus Präventionsgründen grundsätzlich nicht vom Rest der Welt abschotten? Zumindest gilt es, sich zu schützen, sei es mit verstärkten Grenzpatrouillen oder vergrößertem zwischenmenschlichen Abstand, aber in jedem Fall mit Hygienemasken, um dem todbringenden Odem anderer zu entkommen.
Gekommen, um zu sterben oder geblieben, um zu trauern? Die Möglichkeiten des Individuums sind beschränkt, und so verhält es sich auch mit der Zeit des Bühnenaktes. In lediglich 70 Minuten verweben die Protagonisten unter der Regie von Kostas Papakostopoulos Antike und Moderne. Auf der Strecke bleiben dabei nicht nur zahllose Körper, auch die seelische Entfaltung des Stücks benötigt Nach-Reflexionen. Die Fortsetzung zum eingebildeten Ende findet daher nicht in der Theaterstätte selbst, sondern auf Fahrten in überfüllten Bahnen, auf einsamen Spaziergängen entlang von Friedhöfen, dem Fügen in das vermeintliche Schicksal oder während der Zubereitung des Fleisches für das sonntägliche Familientreffen statt.
Iphigenie im Trauerland | R: Kostas Papakostopoulos | 18., 19., 20.2., 25., 26., 27.3. 20 Uhr | Urania Theater | www.dgt-koeln.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Traum von Demokratie
#Streitkultur mit Michel Friedman am Urania Theater – Spezial 02/24
Die letzte Generation?
#streitkultur im Urania Theater mit Gerhart Baum und Bettina Weiguny – Spezial 11/22
„Der Mensch kann lernen“
Michel Friedman über Streitkultur – Interview 03/22
Einigkeit im Dissens
#streitkultur mit Michel Friedman am Urania Theater – Spezial 02/22
Richtig Streiten
Michel Friedmann im Urania Theater
Fragen provozieren
„Gegen die Demokratie“ im Urania Theater – Bühne 10/21
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24