Mittwoch, 19. Dezember: Die Domstadt Köln ist für die in Hamburg geborene Filmemacherin Bettina Braun bereits bekanntes Terrain. Hier drehte sie den Dokumentarfilm „Was lebst du?“, mit dem sie 2005 einem breiteren Publikum bekannt wurde, und die beiden Fortsetzungen „Was du willst“ und „Wo stehst du?“, die sich abermals mit den muslimischen Einwanderersöhnen aus dem Jugendzentrum Klingelpütz in Köln befassten. Nun hatte sich Braun einem weiteren sozialen Brennpunkt zugewandt, der Dortmunder Nordstadt. Für den WDR hatte sie vier Monate mit einer Roma-Familie vor Ort gedreht, daraus entstand der 30-Minüter „Nordstadtkinder – Stefan“. Braun fand „den Kosmos der Familie unheimlich spannend und wollte tiefer in ihn eindringen.“ Deswegen suchte sie nach finanzieller Unterstützung, um schließlich die Kinodokumentation „Lucica und ihre Kinder“ zu realisieren. Hier steht nun nicht nur Stefan im Mittelpunkt, es geht auch um seine allein erziehende Mutter Lucica und seine fünf Geschwister. Seit ihr Vater nach einem Gefängnisaufenthalt in Deutschland nach Rumänien abgeschoben wurde, ist Lucica mit ihren Kindern ganz auf sich allein gestellt. Für Braun ging es allerdings bei den Dreharbeiten sehr schnell um die Frage: „Wer will hier eigentlich was von wem?“
Der Filmemacherin wurde im Laufe der Produktion immer klarer, dass sie sich selbst auch in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Protagonisten begab. In der Kölner Filmpalette, wo die Regisseurin ihr mit dem Filmpreis NRW für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnetes Werk persönlich vorstellte, erläuterte sie dem Publikum: „Nach einem Drehtag konnte ich nicht einfach gehen, wenn ich sah, dass die Kinder Hunger hatten. Dann bin ich los, und habe Essen für sie gekauft.“ Später gingen die finanziellen Unterstützungen Bettina Brauns noch weiter. Sie gab Lucica auch Geld, um ihre Stromrechnungen zu bezahlen. Den Ansatz, als Dokumentaristin einfach nur zu beobachten, hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon längst hinter sich gelassen. Als sich in Lucicas Leben abzuzeichnen begann, dass sie mit ihren Kindern nach Rumänien reisen wollte, um dort ihren abgeschobenen Ehemann Daniel wiederzusehen, nutzte Braun die Gelegenheit, um auch auf diesem fremden Terrain mit der Kamera dabei zu sein. „Ich fand das erzählenswert für den Film, und es hat mich auch persönlich interessiert, einmal zu sehen, wo die Familie herkommt“, so die Filmemacherin. Vor Ort in der Roma-Siedlung hatte sie dann mit ganz ungewohnten Problemen zu kämpfen. Es wurde ihr von Lucica im Auftrag der Nachbarn untersagt, die Straße und das nähere Umfeld ebenfalls zu filmen. Die Roma-Siedlung war zuvor bereits von der englischen Boulevardpresse ausgebeutet worden, weswegen die Bewohner erhebliche Vorbehalte gegenüber westlichen Journalisten hegen. Das ganze Viertel hat nach wie vor kein fließendes Wasser und nicht asphaltierte Straßen, obwohl die Stadt die Erschließung seit zehn Jahren verspricht. Einer der Gründe, warum Menschen wie Lucica und ihre Familie im Westen eine vielversprechendere Zukunft für sich suchen.
Ein anderes wichtiges Kriterium für die Migration der Familie nach Deutschland stellt die Möglichkeit der Bildung für ihre Kinder dar. Bettina Braun schildert ihre Erfahrungen in Rumänien: „In der Roma-Siedlung habe ich kein Kind zur Schule gehen sehen. Das ist dort eine Art vererbte Konditionierung. Weil sich dort auch die Autoritäten nicht einschalten, wachsen die Roma-Kinder ohne Schulbildung auf.“ Für Lucica war die Existenzsicherung in Deutschland eher gegeben als in ihrem Heimatland. In Dortmund, wo sie auch nach wie vor noch lebt, hat sie Essen und ein Dach über dem Kopf – wenn auch nicht immer in ausreichendem Maße, und wenn auch gelegentlich der Strom abgedreht wird. Einigen Zuschauern kam es bei der Kölner Vorführung so vor, als ob Lucica mit dem Bewahren des Status Quo ihres Lebensstandards in Deutschland zufrieden wäre. Doch Bettina Braun betonte, dass es sich für die Rumänin selbst wie eine Aufstiegsgeschichte anfühle. Auch die Einzimmerwohnung, in der sie zu Beginn mit ihren fünf Kindern lebte, sei für Lucica bereits ein Aufstieg gewesen, da sie sich ebenfalls ohne Schulbildung alleine nach Deutschland durchgeschlagen und dort eine Arbeit als Putzfrau gefunden habe. Nach anderthalb Jahren, in denen Braun Lucica und deren Familie mit der Kamera begleitet hatte, war sie besonders stolz, dass auch die Kinder bei einer Dortmunder Vorführung mit dabei sein konnten, weil sie auf diese Weise erfahren konnten, wie ihr Schicksal aus ihrem persönlichen Umfeld herausstrahlt und auch völlig fremde Menschen berühren kann.
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