Zeit ist eine physikalische Konstante, die wir mit technischen Mitteln präzise messen können. Sie ist aber auch eine zutiefst subjektive und relative Angelegenheit. Wenn Menschen über die Zeit an sich oder die Unendlichkeit als Extrem von Zeitlichkeit nachdenken, wird es erst philosophisch, bevor der Schwindel einsetzt. Dass es sich trotzdem lohnt, zwei Tage lang über Zeitlichkeiten nachzudenken, bewies am 9. und 10. Januar das Symposium der Dokumentarfilminitiative dfi im Filmbüro NW. Unter dem Titel „Doing Time. Dokumentarische Operationen im Umgang mit Zeit“ beschäftigte es sich in Filmvorführungen, Gesprächen und Vorträgen mit der Bedeutung, mit Formen und Praxen von Zeitlichkeit rund um den Dokumentarfilm. Schwerpunkte bildeten dabei Genres wie Slow Cinema oder Langzeitbeobachtungen, Fragen zum Archiv oder zu queerer und non-linearer Zeitlichkeit.
Ein experimentelles Kurzfilmprogramm mit dokumentarisch-künstlerischen Arbeiten von den 1960er Jahren bis heute brach zum Auftakt direkt mit einem linearen Zeitverständnis. Das von Kuratorin Michelle Koch in ihrer Einführung erwähnte Vermögen des Mediums, Zeit zu beschleunigen, zu raffen, zu dehnen, umzukehren, kurz: zu manipulieren, demonstrierte sich hier anschaulich. Regisseurin Ann Carolin Renninger erinnerte im Gespräch zu ihrem „Aus einem Jahr der Nicht-Ereignisse“ (2017) daran, dass Kinder, für die noch kein streng lineares und chronologisches Verständnis von Zeit existiere, frei von Konventionen über Zeit nachdenken. Sie appellierte an die Teilnehmenden, sich eine solch flexible und kreative Vorstellung von Zeit zu eigen zu machen. Ein guter Tipp für das anschließende Glossar, wo wie beim Speed-Dating Schlüsselbegriffe wie „Zeitbild“, „Melancholie“, „Rad“ oder „Timecode“ mit fast minütlich wechselnden Gesprächspartner:innen debattiert wurden.
aus: „Ich bin froh, dass die unheilvolle Stille vorbei ist“, Foto: Stefan Neuberger
Neben der durch filmische Mittel variierten Zeit, stellte Chantal Akermans „Hotel Monterey“ von 1972 das Motto des Symposiums buchstäblich auf die Probe, meint „Doing Time“ doch auch das Absitzen von Haftstrafen. Akermans früher Stummfilm porträtiert ein Hotel, von der Lobby bis zum Dach: 63 Minuten, aus sehr langen Einstellungen, wenigen Fahrten und vereinzelten Schwenks montiert, in denen kaum etwas vor der Kamera passiert. Die Reaktionen in der anschließenden Diskussion reichten vom Lob der „fantastischen Stille im Kino“ bis zu der Offenbarung, es „erschreckend langweilig“ gefunden zu haben. Die Situation im Kino ermöglichte aber auch eine konzentrierte Erfahrung des kollektiven Zeit-Erlebens, wie sie vor dem heimischen Laptop unmöglich ist. Journalist Sven von Reden, der gemeinsam mit Birgit Kohler (Arsenal Berlin) moderierte, erkannte in dieser Kinoerfahrung gar eine Entsprechung zum allgegenwärtigen Achtsamkeits-Trend und mutmaßte, dass der Slow Cinema-Boom vor rund 15 Jahren nicht zufällig parallel mit dem der Achtsamkeit aufgekommen sei.
Den Bogen vom geduldig beobachtenden, formal minimalistischen und lange Einstellungen bevorzugenden Slow Cinema zur dokumentarischen Langzeitbeobachtung schlug am Donnerstagabend „Private Universe“ von Helena Třeštíková, der eine Familie von der Geburt des ersten Kindes an über einen Zeitraum von 38 Jahren begleitet. Filmwissenschaftlerin Marion Biet gab Einblick in die Arbeitsweise der tschechischen „Meisterin der Langzeitdokumentarfilms“: Material muss nicht nur gedreht, sondern auch gesammelt, archiviert, katalogisiert und – vor dem Hintergrund des technischen Fortschritts, denn Třeštíková wechselte 1995 von 16mm auf Video – bewahrt und am Ende zu einem Ganzen montiert werden. Langzeitdokumentarfilme erfordern und schaffen so ihr eigenes Archiv. Das filmische Abhaken vermeintlich wichtiger und einer konservativen Logik folgenden Vorstellung eines „guten Lebens“, bestehend aus Heirat, Ehe, Kinderkriegen, wurde an „Private Universe“ trotz sympathischer Protagonist:innen vom Publikum kritisiert.
Jasco Viefhues und Natascha Frankenberg, Foto: dfi, Conny Beißler
Diese heteronormative Sicht konterkarierte Jasco Viefhues‘ „Rettet Das Feuer“, der die homosexuelle Community Berlins in den 1990er Jahren sowie Werk und Leben des 1993 verstorbenen Fotokünstlers Jürgen Baldiga porträtiert. Eng damit verbunden ist die Frage eines queeren Erbes und Archivs. Viefhues berichtete von seinen Erlebnissen im Schwulen Museum Berlin, wo die Verschlagwortung mittlerweile überholt und längst nicht alle Archivarien katalogisiert seien. Queere, trans- oder BPOC-Perspektiven seien nicht auffindbar, weil es diese Begriffe zum Zeitpunkt der Katalogisierung schlicht noch nicht gab. Im Vergleich mit dem vorangegangenen, doppelt so langen Gespräch mit Volker Koepp zu seinem Wittstock-Zyklus, der aufgrund der Länge nur in Ausschnitten präsent war, offenbarte sich ein weiterer Aspekt von Zeitlichkeit: Die Unmittelbarkeit des filmischen Erlebens und dessen Wirkung auf das anschließende Gespräch. Denn gern hätte man noch länger über eine dezidiert queere Zeit(geschicht)lichkeit und Viefhues‘ Film gesprochen.
Zeitgeschichtlichkeit und dessen komplexe Schichtungen im Dokumentarfilm wurden am Ende unter dem Titel „Man kann sich die Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen“ diskutiert. Das Zitat aus Thomas Heises „Material“ (1996), der aufgrund seiner Länge von 166 Minuten im Vorfeld des Symposiums gezeigt wurde, bot den Ausgangspunkt für das Gespräch mit René Frölke und Chris Wright. Die Editoren kamen stellvertretend für den im Mai 2024 plötzlich verstorbenen Heise und berichteten von ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Filmemacher. Als Werkstattgespräch geplant, fehlte für ein tiefes Vordringen in die kunstvoll verwobenen Schichten in „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ und „Material“ ironischerweise die Zeit. Am Ende teilten Wright und Frölke Erinnerungen und Anekdoten, die die sie mit Heise verbanden und riefen ihn so auch für das Publikum wieder in Erinnerung, was dem Symposium auch ohne abschließendes Fazit ein würdiges und offenes Ende verlieh.
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