„Menschen sind Verbrecher, das musst du wissen“, sagt die Mutter zu ihrem Sohn. Als Lebenslosung kommt man damit ziemlich weit, kann immerhin Unternehmer werden. Karl ist mit seiner Mutter und den Geschwistern Erich und Marie verarmt nach Berlin gezogen. Man trägt Overall, Feinripp und Pelzmütze (Kostüme: Maria Roers) und wirft sich kopfüber in eine Proletenpassion. Karl (Simon Kirschs) sieht aus wie ein proletarischer Eros Ramazotti, der an Luchino Viscontis Film „Rocco und seine Brüder“ denken lässt. Er bändelt kurz mit dem Revolutionär Paul (Nikolaus Benda) an, einem anarchischem Haudrauf. Die beiden turteln klassenkämpferisch herum als homoerotisches Dreamteam des Kommunismus. Keine Ideologie ohne erotische Posterboys und -girls. Dank des proletarischen Pragmatismus der Mutter (Lola Klamroth) dauert der Flirt mit dem Umsturz allerdings nicht lange.
Alfred Döblins Roman „Pardon wird nicht gegeben“ erschien 1934 im Exil, ein schnell geschriebenes Epos, das eine Familiengeschichte über drei Jahrzehnte zu entfalten versucht. Der Beginn liegt noch im Wilhelminismus und Martin Reinke mit Pickelhaube zitiert gleich zu Beginn in einem Glaskubus die kaiserliche Weltkriegs-„Hunnenrede“, aus der der Romantitel stammt. Regisseur Rafael Sanchez versucht sich an einer Vivisektion einer gesellschaftlichen Aufstiegs-Dynamik und einer historischen Vergegenwärtigung, die zwischen zwei rampenparallelen Stegen und Bildschirmen an den Wänden (Bühne: Thomas Dreißigacker) kaum über Klischees hinauskommt.
Nachdem Karl dem Abstieg in den Untergrund gerade so entronnen ist, macht er sich an den gesellschaftlichen Aufstieg. Aus einem Wohnzimmer im zweiten Bühnenstockwerk grüßt der Onkel (Martin Reinke), der eine Möbelfabrik besitzt und sich zunächst um die kranke Marie kümmert – Typ Kapitalist mit Herz. Karl entscheidet sich schließlich, in die Fabrik einzutreten und übernimmt später den Chefsessel. Das erinnert zwar von fern an manchen später ziemlich kapitalistischen 68er, doch worin konkret Karls Motivation liegt, bleibt im Dunkeln. Dafür allerdings tropft die Emphase an dem Abend ziemlich dickflüssig, keine gesellschaftliche Veränderung ohne Pathos.
Breit malt die Regie dann Karls Alltag aus, nachdem er neben dem Chefposten auch noch die standesgemäße, wenn auch etwas blasierte Julie (Ines Marie Westernströer) ergattert hat. Kaum verheiratet bricht die große Langeweile über beide herein. Wobei sich Karl plötzlich als protestantischer Erzkapitalist im Weberschen Sinn entpuppt, der Privates und Geschäft eng miteinander zu verbinden weiß. Man reibt sich Augen. Umso mehr, als Karl ganz am Ende sich doch auf die Seite von Paul und der Revolution zu schlagen versucht. Schlüssig ist daran gar nichts mehr. Die holzschnitthafte Zeichnung der Vorgänge, die weder gesellschaftliche noch psychologische Begründungen sucht, lässt die vermeintliche Analyse weitgehend ins Leere laufen. Dass massive gesellschaftliche Umwälzungsprozesse auch Lebensläufe durcheinanderwirbeln, wusste man vorher schon.
„Pardon wird nicht gegeben“ | R: Rafael Sanchez | 27., 30.6., 11.7. je 19.30 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
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