choices: Herr Fürst, was ist so spannend am Tourismus, dass man ihn auf die Bühne bringen muss?
Jörg Fürst: Der Tourismus, dessen Ursprünge bis in die Romantik zurückgehen und der eng mit der Entwicklung moderner Verkehrsmittel verbunden ist, ist ein zentrales Phänomen unserer Gesellschaft und zählt mit 650 Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr weltweit zu den stärksten Wirtschaftszweigen. Zwei Aspekte haben uns besonders interessiert. Einmal Tourismus als zentrales Ritual unserer Gesellschaft, das ungeheuer komplex ist und Fragen der Wahrnehmung, der Sehnsüchte, der Mode, der Musik, der Werbung oder der Ikonographie berührt. Weil das Thema derart komplex ist, haben wir uns für die Form einer multimedialen Performance entschieden, die an den rituellen Charakter anknüpft, den wir dem Tourismus zuschreiben.
Und der zweite Aspekt?
Ein weiterer Grund, sich mit dem Tourismus zu beschäftigen, liegt in einer Analogie des Tourismus mit dem Leben selbst. Also im Sinne von der Abfahrt als Geburt, der Reise als Leben und der Rückkehr als Tod. Das touristische Ritual läuft genauso wie das Leben zyklisch ab. Unser Ziel war, den Tourismus mit seinen diversen Schattierungen zu behandeln und dann darüber hinauszugehen.
Ist das mit dem Titel „All inclusive“ gemeint?
Der Titel „All inclusive“ spielt auf das simple Angebot der touristischen Rundumversorgung an, und darauf, dass wir am Abend auch lebensphilosophische Fragen behandeln. Wir wollen die Aspekte so verknüpfen, dass eine große Poesie entsteht und in den einfachen Alltagsritualen das Ewige, die Fragen nach Leben und Tod plötzlich zum Thema werden.
Worin besteht die Dreiteiligkeit, auf die im Untertitel verwiesen wird?
Auf den ersten Teil folgt ein Interview mit der Schauspielerin Christiane Bruhn, das einen neuen, sehr speziellen Blick auf den Tourismus eröffnet. Am Ende steht dann ein Interview mit Professor Hasso Spode, dem Leiter des Historischen Archivs zum Tourismus Berlin, über die historisch-wissenschaftlichen Aspekte des Tourismus, die das bis dahin Gesagte nochmals in einen neuen Kontext stellen. Es soll ein choreographisch geprägter Abend mit einer heterogenen Dramaturgie werden, bei dem der Zuschauer eine Reise durch verschiedene Schichten seines eigenen Lebens macht.
Reisen wie Theater haben mit äußerer und innerer Bewegung zu tun. Bezieht sich das Choreographische des Abends darauf?
Der Tourist ist immer in Bewegung. Das greifen wir auf und haben Choreographien des Gehens entworfen. Die Bühne besteht aus einer Kreis-Installation, die von einer Projektionsfläche durchschnitten wird. Vorne und Hinten, On und Off stehen sich gleichgewichtig gegenüber, und zwischen den beiden Polen bewegen sich die Darsteller in einem Kreis – wie der Tourist, der von seinem Heimatort zum Zielort fährt in dem Bewusstsein, dass er wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt.
Leben hat mit neuen Erfahrungen zu tun, die man als Tourist vielleicht so nicht machen möchte.
Das hat mit dem jeweiligen Blick auf das Leben zu tun. Für den einen endet die schönste Zeit des Jahres mit der Rückkehr aus dem Urlaub. Für den anderen ist der Tod der Höhepunkt des Lebens. In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Abend, der trotzdem einen sehr leichten Charakter hat. Inspiriert hat uns außerdem Jacques Tatis Film „Die Ferien des Monsieur Hulot“, der sehr genau und komisch die Reiserituale in den Blick nimmt. Zum anderen Peter Handkes Stück „Die Spuren der Verirrten“, in dem durch Gänge individuelle Geschichten, die Verlorenheit, das Nichtverortetsein des Menschen thematisiert wird.
Worin liegt die Komik des Reisens?
Komisch ist, dass plötzlich die Elementarteilchen des Alltags so ungeheuer wichtig werden. Ich habe meinen Kamm, meinen Föhn und meine drei Lieblingshosen dabei, das gibt mir in der Fremde Halt. Dass man sich an den kleinen Dingen festhält, ist sehr menschlich.
Wie sah bei einem solch komplexen Thema die Recherche aus?
Wir haben viel im Historischen Archiv zum Tourismus der Freien Universität Berlin recherchiert. Das Archiv verfügt über umfangreiches Material zur Entwicklung des Tourismus, über seine ökonomische Seite und seine Folgen für die Umwelt oder über die Art und Weise, wie sich Leute über fremde Länder informieren. Seit Jahrzehnten wird dort touristisches Werbematerial gesammelt, das viel über Sehnsüchte und die Veränderungen des Reiseverhaltens erzählt. Sehr hilfreich war auch der Nachlass eines reisewütigen Professorenpaars, das über vierzig Jahre die Welt bereist hat.
Die Zeit spielt beim Reisen eine vielfältige Rolle. Welche Rolle spielt das bei „All inclusive“?
Zeit ist ein zentrales Thema unseres Abends. Beim Reisen kann der Körper schon in Thailand sein, während die Seele noch in Köln am Rudolfplatz sitzt und erst vier Tage später nachkommt. In unserem Interview mit Christiane Bruhn haben wir auch darüber gesprochen, wie sich unser Tourismus-Projekt entwickeln könnte und wie der Abend enden soll. Das wird am Abend zu hören sein. Die vergangene Probenzeit wird also als Gegenwart erfahrbar sein, in der über den möglichen Ausgang des Abends spekuliert wird. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden sich so durchdringen.
Wo berührt sich das Theater eigentlich mit dem Tourismus?
Theater und Tourismusindustrie arbeiten mit den Sehnsüchten von Menschen. Der Tourismus versucht, diese Sehnsüchte zu erfüllen oder sogar neu zu kreieren. Das Theater konfrontiert den Zuschauer im Idealfall mit einer fremden Erfahrung, die ihn zwingt, seinen Standpunkt neu zu definieren. Das ist das Ziel unserer Theaterarbeit. Inwieweit bin ich als Zuschauer bereit, mich auf eine fremde Ästhetik einzulassen und darüber vielleicht sogar meine Rolle zu wechseln? Oder inwieweit beharre ich darauf, dass alles bleibt, wie es ist?
All inclusive. Eine Tourismus-Trilogie
Regie: Jörg Fürst I Studiobühne
10.(P)/11.-14.11./19.-23.1.2011, 20 Uhr
0221 985 45 30
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