Wir sprachen mit Kerstin Ortmeier und Gerhardt Haag über die aktuelle Ausgabe und das Verhältnis zwischen Afrika und dem Globalen Norden.
choices: Der afrikanische Kontinent ist für viele Europäer durch Klischees geprägt. Wie sehen Sie die Realität der dortigen Staaten?
Kerstin Ortmeier: Gegenfrage: Welche Klischees meinen Sie? Hunger, Armut, Korruption, Rohstofflager? Falls ja, würde ich diesem den kreativen Reichtum der Künstler:innen und Intellektuellen entgegen stellen, die mit ihrem Aktivismus ihr Leben riskieren, deren Poesie kraftvoll ist. Wir können hier viel von der Brillanz der Gedanken und dem engagierten Geist dieser Menschen lernen.
Welche Zukunft des Kontinents ergibt sich daraus?
Kerstin Ortmeier: Hier verweise ich auf die Lektüre „Afrotopia“ von Felwine Sarr. Der senegalesische Autor lenkt in seiner Utopie den Blick auf eine wirkliche Entkolonialisierung Afrikas, indem es sich auf seine geistigen und kulturellen Ressourcen zurückbesinnt, ohne den Kontakt mit der Moderne zu verleugnen. In der Kunst und in der Philosophie erschaffen wir Utopien, zur Anwendung müssen sie durch uns alle in die Realität gelangen. Beim africologneFestival empfehle ich den Besuch von „Biktusi 3000“ (2./3. Juni, TanzFaktur, Anm. d. Red.). In Bassys afrofuturistischer Tanz- und Musikperformance führt die Königin von Nkolmesseng im heutigen Kamerun einen Widerstand an, um den Kontinent von Kolonialismus und Imperialismus zu befreien. Ihre Armee, die aus Frauen besteht, hat eine einzige Waffe: den Tanz.
Welchem kolonialen Erbe muss sich Köln stellen?
Gerhardt Haag: Neben Straßennamen, Denkmälern, Raubgut in Museen und Sammlungen sitzt das koloniale Erbe tief in den Köpfen der Menschen – nicht nur in Köln. Der individuelle wie der strukturelle Rassismus sind hier nach wie vor verankert. Dass in Deutschland Unterkünfte für Geflüchtete brennen, dass Deutschland seit der industriellen Revolution trotz zweier angezettelter Weltkriege und der Shoa heute wieder unter den potentesten Wirtschaftsnationen zu finden ist, ist auch Teil des kolonialen Erbes.
Glauben Sie, dass die Wunden der Vergangenheit angesichts der Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen auf dem Kontinent geschlossen werden können?
Gerhardt Haag: Zunächst müsste der „Globale Norden“ aufhören, immer neue Wunden zu schlagen.
Kerstin Ortmeier: Aus der Psychologie wissen wir, dass es intergenerationelle Traumatisierungen gibt. Diese Wunden können nicht von außen her verpflastert werden. Zora Snake, ein renommierter Choreograph und Künstler aus Kamerun, lässt Gewalterfahrungen in seiner Performance „L’Opera du villageois“ aufleben, die wir am 7. und 8.6. im Rautenstrauch-Joest-Museum präsentieren. Er bringt uns die Spiritualität nahe, die beispielsweise in den Masken liegt, die in unseren Museen ausgestellt sind und zum großen Teil als koloniale Raubkunst nach Europa kamen. Im diesjährigen africologne-Dialogforum wollen wir mit Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Expert:innen zentrale Fragen zum Themenkomplex „Anerkennen, Restituieren, Reparieren“ untersuchen.
Welche Voraussetzungen müssen die Menschen in Afrika selbst schaffen, um sich aus dem Bildnis einer permanenten Krise zu befreien?
Kerstin Ortmeier: Ich würde die Frage anders stellen. Welche Voraussetzungen müssen wir schaffen, um ein würdevolles Miteinander zu gestalten? Auf welche ökonomischen Vorteile und Ressourcen verzichten wir bzw. bezahlen diese angemessen? Unser Film „Coltan-Fieber: Connecting People“ mit Yves Ndagano, ehemaliger Kindersoldat und Minenarbeiter in der DR Kongo, später Künstler und Festivalleiter, zeigt deutlich, dass am Anfang der Handelskette die Ausbeutung am größten ist. Bis hin zur Kinderarbeit, weil die Kinder am besten in die kleinsten Löcher hineinkriechen können.
Wie kann die Aussöhnung abseits theoretischer Bekenntnisse zum Humanismus erfolgen?
Gerhardt Haag: Wenn überhaupt können Menschen aufeinander zu gehen, sich respektieren. Aber Achtung: Es gibt kein richtiges Leben im falschen (System) – frei nach Theodor W. Adorno.
africologneFestival | 1.-11.6. | div. Orte in Köln | 0221 77 94 87 (afroTopia e.V.)
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Ich sehe mich als Bindeglied zwischen den Generationen“
Melane Nkounkolo über ihre Arbeit als Aktivistin und Künstlerin – Bühne 05/23
Neues Bild von Afrika
African Futures Cologne 2023 bietet ein reichhaltiges Programm – Prolog 05/23
„Wir können in Köln viel bewegen“
African Futures-Projektleiterin Glenda Obermuller – Interview 05/23
Reverse Colonialism!
Das africologne Festival findet zum fünften Mal in Köln statt – Prolog 06/19
„Das Gute nehmen, das Schlechte lassen“
Das africologneFestival präsentiert neue Kunst aus Afrika – Premiere 06/17
Politisches Theater
… in nationalistischen Zeiten: Festivals im Juni – Prolog 05/17
Nahtlos in den Unruhestand
Gerhardt Haag hinterlässt nach 21 Jahren große Fußstapfen am Bauturm Theater – Theater am Rhein 07/16
Glokales Theater
Die neue Spielzeit 2016/17 im Theater im Bauturm – Theater am Rhein 07/16
Die ganze Welt ist Festival
Der Theater-Juni im Rheinland – Prolog 06/15
„Etabliert, aber nicht gesichert“
Zum dritten Mal findet das Festival africologne statt – Premiere 06/15
Gefahrvolle Odyssee
„Die Piroge“ im cinenova – Foyer 07/13
Ästhetische Bandbreite
In Köln findet zum zweiten Mal das Festival africologne statt – Theater in NRW 06/13
Mut zur Neugier
„Temptation“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 04/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Wahllos durch die Zeitebenen
„Schlachthof Fünf“ am Theater im Ballsaal – Auftritt 04/24
„Ich mache keine Witze über die Ampel“
Kabarettist Jürgen Becker über sein Programm „Deine Disco – Geschichte in Scheiben“ – Interview 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
„Wir wissen nicht viel über das Universum“
Ronny Miersch inszeniert „Der Mensch erscheint im Holozän“ am TdK – Premiere 04/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Für die Verständigung
Stück für Gehörlose am CT – Theater am Rhein 03/24
Im Höchsttempo
„Nora oder Ein Puppenhaus“ in Bonn – Theater am Rhein 03/24
Lesarten des Körpers
„Blueprint“ in der Außenspielstätte der Tanzfaktur – Prolog 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24