choices: Herr Maxwell, Ihr neues Stück „Das Mädchen“ handelt von der Beziehung eines Vaters zu seiner Tochter. Was macht diese Beziehung aus?
Richard Maxwell: Ich bin seit drei Jahren selbst Vater. Das hat mich und meinen Blick auf das Leben sehr verändert. Ich fühle mich, als ob ich emotional und psychologisch von innen nach außen gekehrt worden wäre. Mit der Geschichte vom Vater und dem Mädchen projiziere ich mein Leben in die Zukunft. Bis zu dem Punkt, wo das Mädchen erwachsen wird. Die Geschichte soll zeigen, was das für die beiden bedeutet und wie es ihre Beziehung verändert.
Also eine Coming-of-Age-Story?
Vielleicht. Aber ich würde sie eher als mythisch oder archetypisch beschreiben. In dem Sinn, wie der Psychoanalytiker C.G. Jung das einmal beschrieben hat: Archetypen sind wie ein altes Flussbett, dem wir folgen. Ich mag diese Vorstellung. Es ist allerdings merkwürdig, „Das Mädchen“ überhaupt als Stück zu bezeichnen. Ich habe den Text niedergeschrieben wie eine Kurzgeschichte, mit Absätzen und wenig Dialog. Wie wir das auf die Bühne bringen sollen, ist mir selbst noch ein Rätsel. Aber ich liebe die Herausforderung, mit so wenig Dialog wie möglich eine Geschichte zu erzählen und dabei nach neuen Möglichkeiten zu suchen, wie man im Theater kommunizieren kann.
Warum haben Sie Dialoge ausgespart? War das ein dramaturgischer Plan?
Es hat sich eigentlich ganz organisch entwickelt. Ich habe eine Menge Stücke geschrieben, in denen sich die Charaktere über Dialoge auseinandersetzen. Es hat mich interessiert, neue Arten des Erzählens zu erforschen. Was macht das Theater aus, was kann es leisten, wenn es um das Geschichtenerzählen geht. Das Besondere der Bühne liegt für mich darin, dass der Körpers des Schauspielers in Realzeit innerhalb einer fiktiven Geschichte agiert. Wenn ich diese Prämisse akzeptiere, stellt sich die Frage, was der Körper eigentlich enthüllt. Zugleich ist „Das Mädchen“ eine bilinguale Produktion. Ich bringe vier amerikanische Schauspieler mit, dazu kommen drei Schauspieler vom Theater Bonn, und das Publikum ist deutschsprachig. Auch das spielt eine Rolle, wenn wir die Geschichte ohne gesprochene Sprache zu erzählen versuchen.
Kann man sagen, dass Vater und Tochter erst miteinander zu sprechen beginnen, wenn sie sich trennen?
Für mich war das eher eine strukturelle Frage. In den Kategorien der Musik betrachtet: Wenn es lange ziemlich ruhig ist auf der Bühne und dann plötzlich Musik einsetzt, verstärkt es den Effekt und den Wert dessen, was man dann hört. Dass da eine psychologische Parallele besteht und die Sprache erst mit der Trennung einsetzt, das ist eine interessante Interpretation.
Was bedeutet die Stille für die Präsenz des Schauspielerkörpers auf der Bühne?
Anders als beim Film, wo der Schnitt mir vorschreibt, was ich sehe, trifft der Zuschauer im Theater selbst die Entscheidung, wohin er schaut. Diese Freiheit und diesen Spielraum untersuche ich mit meinen Arbeiten immer wieder. Wenn man Figuren auf der Bühne sieht, sieht man zweierlei: Man sieht sie als Charaktere einer fiktiven Geschichte, die zum Beispiel durch die Kostüme repräsentiert wird, aber man sieht auch ein menschliches Wesen, eine Person, deren Geschichte wir uns ausdenken und mit unseren eigenen Gefühlen unterfüttern. Wenn jemand auf der Bühne steht, erzählt der Zuschauer sich also selbst eine Geschichte über diese Person. Im Alltag passiert das jeden Tag. Im Liveformat des Theaters aber, wenn eine Person mit ihrer eigenen Geschichte in einer fiktiven Geschichte präsent ist, wird das akut.
Hat Ihre Suche nach neuen Erzählformen auch damit zu tun, dass sie derzeit ein Libretto für ein Ballett schreiben?
Ja, ich arbeite gerade an einem Ballett für Sarah Mitchelson und werde auch in Bonn mit einem Choreographen zusammenarbeiten. Es ist die gleiche Art der Suche. Tänzer erzählen eine Geschichte durch die Bewegungen und natürlich durch die Musik. Das interessiert mich. Das hat viel damit zu tun, wie wir das Vokabular des Körpers definieren. Ich bin selbst kein Choreograph, ich brauche also Hilfe, um dieses Vokabular freizulegen und hoffentlich neue Formen zu entdecken, wie Performer miteinander, aber auch mit dem Publikum kommunizieren können.
Werden die Dialoge am Ende auf Englisch oder Deutsch gesprochen?
Es soll kein Wort Englisch auf der Bühne fallen.
Wo liegt der Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Schauspielern?
Ich arbeite mit Schauspielern auf jedem Professionalitäts- Level, von Laien bis zum Profi-Darsteller, und diese unterschiedlichen Fähigkeiten und Erfahrungen sind sehr wichtig für mich. 2006 habe ich am Stadttheater Bonn „The Frame“ mit Schauspielern des Ensembles realisiert, die schon in vielen Stücken auf der Bühne gestanden haben. Dass sie die Nase rümpften, als ich Menschen ohne jede Bühnenerfahrung eingesetzt habe, kann ich verstehen. Das wäre in Amerika oder Kanada nicht anders. Es war nicht meine Absicht, jemanden durch den Einsatz von Laien zu beleidigen. Für mich ist jedoch alles, was in einem Probenraum stattfindet, tief verwurzelt in dem Begriff der Suche und der Erforschung. Ich stelle immer wieder das Wissen, über das wir verfügen, in Frage. Wenn ich einen Probenraum betrete, kenne ich die Antworten noch nicht. Es wäre doch langweilig, im Voraus zu sagen, so und so werden wir es machen. Manche Schauspieler mögen sich dabei unwohl fühlen, wenn der Regisseur sagt „Ich weiß es nicht“. Aber ich glaube fest daran, dass diese Methode funktioniert.
Sie haben nur vier Wochen Proben?
Wir haben schon in New York etwas vorgearbeitet, aber so lange Probenzeiten sind ein Luxus. Ich arbeite mit den Bedingungen, die ich vorfinde. Wenn wir nur eine Woche hätten, würden wir auch etwas zustande bringen. Vier Wochen sind genug.
„Das Mädchen“
Autor und Regisseur: Richard Maxwell
Theater Bonn I 13.(P)/14./ 17.-21.3., 19.30 Uhr
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