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Mein Leben ohne mich

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An der Seele berührt

18.09.2003

Die 23-jährige Ann stirbt. In Ihrem Körper ein rasend wachsendes Ovarialkarzinom. In Ihrem Leben ein Ehemann, den sie liebt, und zwei kleine Töchter. In Ihrem Kopf kein Platz, um zu sterben. Die Wahrheit teilt Ann nur mit ihrem Arzt. Den Rest ihrer Zeit verbringt sie damit, Vorbereitungen für ihren Abschied zu treffen: Kassettenmemos an die Familie, in denen sie die Motive für ihr Schweigen erklärt, ihre Wünsche an ihren Mann und ihre Mutter, Geburtstagsbotschaften für ihre Töchter. Einmal echte French Manicure-Nägel, die sich Ann im ortsansässigen Kleinstadt-Friseurladen holt. Aus der neuen Frisur wird nichts, weil die Friseurin vor Ideen nicht geradezu sprudelt. Und mit einem anderen Mann schlafen möchte Ann noch – ihr Ehemann war auch der erste Mann in ihrem Leben. Und einen Mann verliebt in sich machen. Ann schafft beides: Der Mann, den sie kennenlernt, verliebt sich auch in sie.

Ann blickt ihrem Schicksal tapfer in die Augen, würde man sagen, wenn man ihr Verhalten im Sinne einer Platitüde kategorisieren möchte. Aber tatsächlich ist es so, dass Ann mit der Situation so umgeht, wie sie als Ann das tut. In keiner Sekunde sind unsere Entscheidungen nur von einer Motivation, von einem Aspekt unserer Persönlichkeit getragen. Dass Ann nicht schluchzend vor dem Arzt zusammenbricht, als er ihr die Diagnose mitteilt, bedeutet nicht, dass sie nicht weint. Und dass sie tapfer ist, bedeutet nicht, dass sie keine Angst hat.

Man vermisst Anns Tränen; man wünscht sich, aus der einen möge eine Flut werden. Man wartet zitternd darauf, dass Ann ihre Mutter anschreit, die sich darauf verlegt hat, ihrer Lebensverbitterung mit Gleichgültigkeit und Gefühlskälte zu antworten. Man möchte, dass Ann ihre Fingernägel auf dem Rodeo Drive manikürt bekommt und nicht in dem heruntergekommenen Kleinstadtladen. Man will so viel mehr für sie – ihr mehr Zeit schenken und Farben zeigen, die sie noch so gerne sehen würde - und es ist sehr schmerzvoll, ihr dabei zuzusehen, wie sie in den letzten Tagen ihres Lebens Schulböden putzt, Teller trocknet und Hühnchen aufwärmt. Man hofft, dass sie einfach nicht mehr kann und endlich ihrem Mann oder irgendjemandem weinend in die Arme fällt – und sich fallenlassen kann. Doch die junge Frau entscheidet sich dagegen. Sie erzählt niemandem von dem, was wirklich passiert, nimmt heimlich ihre Schmerzmittel, übergibt sich leise auf der Toilette und macht aus ihrer tödlichen Krankheit eine offizielle Anämie, die sie zeitweise ans Bett fesselt. Als Betrachter fühlt man sich gleichzeitig wie mitten im Geschehen und dennoch so ohnmächtig. Deshalb, weil man weiß: Wäre man ein Mensch in Anns Leben, würde es einem gehen wie im Kinosessel – man könnte nichts tun, weil man von nichts wüsste. Man möchte Ann in den Arm nehmen, möchte sie trösten, ihr irgendwie Unterstützung, Erleichterung verschaffen. Es tut weh, Anns Einsamkeit mitzuerleben, ihre Furcht zu spüren und nachzuempfinden, mit der sie ganz alleine fertigwerden muss. Aber auf der anderen Seite eben: Eine Einsamkeit, für die sich Ann entscheidet; eine Furcht, der sie alleine begegnen will.

Ann hält uns einen Spiegel vor. Sie erinnert daran, dass keiner von uns ein prototypisches Verhaltensmuster aufweist, wenn er mit Situation x konfrontiert wird. Die sterbende Ann gibt uns Zuversicht. Eine eigentlich aussichtslose Situation bedeutet nicht, dass man deshalb restlos alle Zügel aus den Händen geben muss. Ann hat nicht mehr viel Zeit, um zu gestalten, aber die, die ihr bleibt, nützt sie. Sie hat noch immer die Wahl zwischen einigen Alternativen, und es liegt gänzlich an ihr, sich für oder gegen einzelne zu entscheiden. Ann wählt, und es tut gut, zu sehen, wie sie bis zum letzten Moment die Dinge nach wie vor so macht, wie sie es will, wie sie als Anne fungiert. Die junge Frau entscheidet sich dagegen, sich in die Lethargie einer Krebsstatistikopfers zu werfen und im Bett auf ihren Tod zu warten; sie lehnt es ab, die Kontrolle abzugeben. Ann will noch einmal die Chance wahrnehmen, andere Männerlippen zu küssen. Sie will ihren Vater nach Jahren wiedersehen. Und sie tut es. Denn es ist noch immer ihr Ding.

Und da ist noch etwas, woran uns Ann mit ihrer Geschichte erinnert. Nämlich an die große und zähe Unzufriedenheit, die wir in dieser Gesellschaft so oft verspüren. Die Undankbarkeit für das, was ist, und die Beschwerden, die wir gegen das führen, was wir „nur“ haben sowie jene darüber, was uns „fehlt“, was wir „brauchen“. Das, was uns zum Glücklichsein abgeht. Kein Lächeln ist gleichzeitig so abgeklärt, so traurig und so unschuldig anklagend wie jenes, das man in Anns Gesicht sieht, wenn sich ihre Kollegin zum tausendsten Mal über ihre nicht-existenten Gewichtsprobleme und das Nicht-Funktionieren von Diäten mokiert. Aus gutem Grund fühlt man sich schlecht, wenn die nicht zu vermeidenden Bilder aus dem eigenen Leben auftauchen: Quarterlife-Krisen, zu wenig Geld, Langeweile, das neue Tattoo kann man sich erst im nächsten Monat leisten. Wie sehr das doch alles nervt. Die junge Frau, die zwei Wochen vor ihrem Tod Schultafeln wischt, korrigiert hier einige Relationen.

Und so verlässt man das Kino ganz ohne Lächeln im Gesicht. Denn dieser Aussagen kann sich kein Mensch entziehen. Der abgegriffene Satz, dass man jeden Tag so leben sollte, als wäre es der letzte (so könnte es denn auch sein), gehört nicht dazu. Aber Ann, die etwas meistert, wovor wir uns alle fürchten, berührt ihre eigene Seele und damit auch unsere: Genießt euer Leben. Trefft eure Entscheidungen, nachdem ihr auf euer Herz gehört habt, und steht zu diesen Entscheidungen. Und: Seid ihr selbst, bis zum letzten Moment.

Dass es nicht leicht ist, das Schicksal einer tödlichen Krankheit anzunehmen, kann jeder verstehen. Dass dies und noch einige andere Dinge nicht unmöglich sind, beweist Ann in diesem unsentimentalen, großartigen Lehrstück.

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