Die Klavierklänge erzeugen eine melancholische Atmosphäre. Die fünf hellen Spielboxen im Cinemascope-Format (Bühne: Philip Bußmann) erzählen von Vereinzelung und Rückzug. Und die vom Hausmädchen Cathleen gesprochenen Bühnenanweisungen schaffen ein Moment der Distanz. Melancholie, Einsamkeit, Distanz – davon allerdings sind James Tyrone, seine Frau Mary und die beiden Söhne Jamie und Edmund in Luk Percevals Inszenierung von Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ (zunächst) weit entfernt. Ihr emotionales Barometer erzählt eher davon, wie sie sich in einem ständigen Kampf miteinander verhaken. Wie Kletten hängen sie aneinander und streiten sich über Drogen, über Schuld, die Vergangenheit und die Gegenwart.
Dass O‘Neills Anweisungen zu den Suchterscheinungen der Figuren zwar aus dem Off ertönen, aber nicht gespielt werden, wirkt zunächst wie das Exorzieren eines Naturalismus. Doch es macht den Abend vor allem doppelbödig. Perceval webt zwar einen Kokon an illustrierenden und behaupteten Bedeutungszuweisungen, die von Verfallserscheinungen erzählen. Doch man beobachtet eine Horde strampelnder Kampftierchen, die keine Gnade kennen. Rudelbildung in der Familie. Bevorzugtes Kampfmittel: Der Tiefschlag. Unter gegenseitiger Beobachtung stehen sie übrigens alle. Astrid Meyerfeldts „teflonfreundliche“ Mary soll endlich ihre wieder manifeste Morphiumsucht gestehen, aber das Zittern ist eben nur Behauptung. Sie schwebt durch die Räume, geht in den Clinch, lügt gnadenlos die Krebserkrankung ihres geliebten Sohnes Edmund zu einer Sommergrippe herunter.
Nikolay Sidorenko spielt diesen Benjamin der Familie mit einer fast fatalistischen Kälte, die diametral zum Verhalten von Bruder und Vater steht. André Jungs James Tyrone ist ein gemütlich wirkender, bolleriger pater familias, der seinen gesundheitsschädigenden Geiz ständig positiv umdeutet und seine miesen Geldgeschäfte als soziale Wohltaten preist. Ihm in seinen Wutausbrüchen nicht unähnlich ist Sohn Jamie (Seán McDonagh), der sich als Versager wieder in den Schoß der Familie geflüchtet hat, aber den Aufklärer spielen möchte. Perceval schafft eine merkwürdig schwebende Atmosphäre zwischen der Vergeblichkeit der Melancholie und dem Hamsterrad des Familienstreits. Als ob die selbstzerfleischende Lebendigkeit des Quartetts ein Einspruch gegen die Behauptung der Sucht wäre. Solange sie streiten, leben sie noch!
Dann allerdings geht ein Regenguss vor der Bühne nieder. Eine romantische Metapher von bezwingender Vordergründigkeit und Bildmächtigkeit. Und nun triumphiert doch noch die Illustration. Jamie lallt minutenlang sein Delirium in den Bühnenraum, bis die Worte zu Klangfetzen zerfallen. Edmund brüllt seinen Krebsfrust heraus und Mutter Mary watet schließlich durch eine Wasserrinne als Ophelia des Morphins ins Licht, sprich: White Light White Heat (Velvet Underground). Ein beindruckender Abend, wenn auch mit leichten Längen.
„Eines langen Tages Reise in die Nacht“ | R: Luk Perceval | 5.1. 18 Uhr, 10., 21., 23., 31.1. je 19.30 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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