„Ein brutaler Blick auf die Entmenschlichung der Welt“
30. November 2017
Nuran David Calis dramatisiert Philipp Winklers Hooligan-Roman „Hool“ – Premiere 12/17
Philipp Winklers „Hool“ erzählt die Geschichte von Heiko Kolbe, einem Hooligan mit Leib und Seele. Hannover 96 ist sein Verein, aber das Eigentliche passiert nach dem Spiel: Weitab von Gelegenheitsfans und Polizei trifft man sich zum Kampf Mann gegen Mann. Diese Kämpfe sind Heikos Welt, nicht seinen heroinsüchtige Freundin oder seine durchgeknallte Familie. Doch die Szene ändert sich, bricht auseinander, manche steigen ganz aus. Für Heiko aber gibt es keine Alternative. Er bleibt ein Hool. Ein Gespräch mit Nuran David Calis, der den Roman am Schauspiel Köln inszeniert.
choices: Herr Calis, Philipp Winklers Roman „Hool“ ist in der Welt der Hooligans angesiedelt und wurde dafür als „authentisch“ gelobt. Bedient ein solcher Stoff nicht den Voyeurismus eines bürgerlichen Publikums mit seinem Blick in eine vermeintliche Welt der Exoten? Nuran David Calis: „Hool“ ist ein Roman, also etwas Nichtauthentisches. Man muss ihn als Kunstwerk nehmen, aus dem vielleicht etwas Parabelhaftes über unsere Gesellschaft herausgelesen werden kann. Von der ersten Sekunde an haben die Schauspieler und ich darauf geachtet, dass wir nicht so einen White-Trash-Plot zeigen, nicht in einen Milieuvoyeurismus verfallen. Wir wollen den Roman nicht bebildern, also die kaputte Familien zeigen oder Schlägereien nachstellen. Wir setzen bei Heikos massiver Identitätsstörung an. Wir werden drei Heikos auf der Bühne haben und versuchen herauszubekommen, was mit ihm los ist. Womit beschäftigt er sich? Was sitzt ihm im Nacken? Wir versuchen eine Ruhe auf der Bühne zu erzeugen, die zu einer totalen Unruhe bei den Zuschauern führt. Es geht darum, nicht laut auf der Bühne, sondern laut im Kopf des Zuschauers zu werden.
Widerspricht dem nicht eigentlich die sehr drastische, „laute“ Sprache des Romans? Heikos Wortschatz im Roman besteht vielleicht aus 300 Wörtern. Er schafft es, mit diesen 300 Wörtern seine Welt durch Krebsgänge, durch retardierende Momente zu beschreiben. Er redet nicht über Schiller, nicht über Goethe, nicht über seine Eltern, wichtig ist der Rhythmus. Es geht darum, diese Sprache als eine Art Puls, als Metronom zu benutzen. Sie löst das Bewegungsmoment aus oder behindert es. Die Sprache hat einen unheimlichen Sound, das ist wie gut komponierte Musik.
Nuran David Calis
Foto: Anita Hirschbeck, Erzbistum Köln
ZUR PERSON
Nuran David Calis wurde 1976 als Sohn
armenisch-jüdischer Einwanderer aus der Türkei in Bielefeld geboren. Er
arbeitete als Türsteher, studierte in München Regie und produzierte Musikclips
für Hip-Hop-Bands. Am Schauspiel Köln inszenierte er „Die Lücke“ über den
NSU-Terror, „Glaubenskämpfer“ und zuletzt „Istanbul“. Im November 2017 wurde
ihm der Ludwig-Mülheims-Preis des Erzbistums Köln verliehen.
Ist der Roman dadurch eher ein Bewusstseinsstrom eines Erzählers? Das Ich des Romans ist ja Erzähler und Heiko gleichzeitig. Deshalb ist der Sound bei allen Figuren derselbe. „Hool“ ist genau durchkomponiert. Philipp Winkler spielt zwar mit dem Image des Hooligans, aber seine ästhetischen Kniffe machen das Buch zu einer Art Partitur. Mit Hilfe eines kaleidoskopischen Verfahrens der Vor- und Rücksprünge bekommen die Kapitel einen ganz eigenen Puls. Teilweise hat der Plot eine sternförmige Dramaturgie, die immer wieder zum Kern des Erzählerursprungs zurückkehrt. „Hool“ wirft einen unheimlich brutalen Blick auf die Verwahrlosung und Entmenschlichung der Welt. Der Roman zeigt, was Gewalt mit einem macht. Ihre Ursachen sind nicht in irgendeinem System zu finden, sondern bei den Menschen und ihrer Umgebung. Nicht ein Einzelner trägt die Schuld, sondern alle sind mit in der Verantwortung.
Warum kann Heiko nicht auch ein Doppelleben führen wie seine Kumpel, die in der Woche den Bürger und am Wochenende den Hooligan spielen? Für ihn Heiko gehören Kampf und die Gruppe zusammen. Er hat ein Problem damit, dass die andern ihr eigenes, ihr eigennütziges Leben führen. Und in dem Moment, in dem er sich entschließt, mit Yvonne oder Kai eine eigene Familie aufzubauen, entfernen sie sich von ihm. Jeder normale Jugendroman würde, wenn Kai im Krankenhaus liegt, den Held geläutert beschließen lassen, ein guter Mensch zu werden. Da ist der Roman total klug. Die anderen verändern sich, aber Heiko will weitermachen. Das geht weit über ein Lehrstück oder einen Entwicklungsroman hinaus. Die Größe von „Hool“ liegt darin, dass Heiko seine Subversivität bis zum Schluss durchhält und nicht der Konvention nachgibt. Das macht den Abend verstörend und schwer zugänglich. Der Zuschauer kommt in diesen Fahrstuhl im Erdgeschoss rein und da sitzt Heiko. Mit ihm fahren wir sieben Stockwerke runter. Es wird dunkler, kälter, undurchsichtiger, Figuren huschen vorbei. Wir bleiben immer bei Heiko und nehmen so viel wahr, wie er uns gibt.
Die Hooligan-Welt hat ja durchaus ihre Ordnung. Es gibt strenge Regeln. Entsteht dadurch Sicherheit? Heiko sehnt sich nach diesen klaren Regeln des Hooligan-Kampfes. Dort weiß er, wer seine Feinde sind. In seiner leiblichen Familie und bei seinen Freunden weiß er nicht, wer gerade Freund oder Feind ist. Er bekommt von seinem Vater einen auf den Deckel, sein Onkel ist strange. Die Welt der Hooligans vermittelt ihm dagegen totale Ruhe durch ihre Klarheit.
Ist das eine Passion? Wohin führt die Abwärtspirale? Es ist eine Passionsgeschichte. Heiko lebt in einer autistischen Einsamkeit. Es gibt keinen Zusammenhalt in einer Schlägertruppe. Du bist ein ganz armes einsames Schwein, wenn du dich entscheidest, diesen Weg zu gehen. Das wollen wir erzählen. Die Gang als Familie ist eine Illusion. Es treibt dich in die Isolation, du wirst autistisch, stumpf, verlierst jegliches Gefühl. Du bist nicht offen für die Zukunft, dein Horizont wird klein. Du wirst zum Junkie, der sich von Auseinandersetzung zu Auseinandersetzung sehnt. Heiko lebt nur noch für die nächste Prügelei, weil das die Momente sind, wo er sich spürt. Das ist das Brutale und das wollen wir zeigen.
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