„Ich habe kein Mitgefühl“, konstatiert der junge Stepan Polubny (Oleksii Dorychescski) mit eisiger Kälte. Dabei schält er sich aus einer Gruppe Hungernder heraus, die ihn festzuhalten versuchen. Polubny stammt eigentlich von ukrainischen Bauern ab; doch um Karriere bei Stalins Geheimpolizei zu machen, verleugnet er seine Eltern und hilft mit, die Kollektivierung der Landwirtschaft gegen den Widerstand der ukrainischen Bauern mithilfe einer radikalen Aushungerungspolitik voranzutreiben.
Der Holodomor, der Genozid durch Hunger, forderte zwischen 1931 und `33 in der Ukraine etwa drei bis sieben Millionen Tote. Öffentlich zugängliche Statistiken gibt es nicht, Moskauer Archive sind bis heute gesperrt. Das Gedenken an den Holodomor ist heute Teil der nationalen Erinnerungskultur der Ukraine – wobei heute klar ist, dass Stalin nicht nur die Kollektivierung vorantreiben wollte, sondern auch den Widerstand der Ukraine und vielleicht auch ihre Bürger auslöschen wollte. Die Gruppe Futur3 bringt dieses düstere historische Ereignis nun in der Form eines Dokumentarstücks auf die Bühne und schlägt damit unverkennbar einen Bogen zur heutigen Vernichtungspolitik der Putin-Regierung gegenüber der Ukraine.
Im Depot 2 des Kölner Schauspiels hängen drei große erdfarbene Stoffbahnen von der Decke, die an Bilder Anselm Kiefers erinnern (Ausstattung: Michaela Muchina) und auf welche historische Filmaufnahmen, ein aktuelles Interview mit einem Landwirt, aber auch Lenin-Zitate oder Biographien projiziert werden. Erzählt wird der Abend anhand von vier historischen Figuren: neben dem GPU-Offizier Polubny die junge Deutsche Magda Homann (Anja Lazeschann), Ehefrau eines ukrainischen Bauern, die in Briefen an ihre Familie von Hunger und Repressalien berichtet. Schließlich der spätere Dissident Lew Kopelew (Stefko Hanushevsky), der als begeisterter Bolschewiki an der Requirierung von Getreide teilnahm sowie der Journalist Gareth Jones (Stefan H. Kraft), der sich ein persönliches Bild der Aushungerungspolitik machte, für seine 1933 veröffentliche Reportage im Westen aber einen Shitstorm erntete.
Der Abend gerät zunächst allzu betulich, wenn das ukrainisch-deutsche Ensemble seine biographischen Wurzeln und den Angang an das Thema beschreibt. Danach allerdings gelingt der Inszenierung in ihrem Mix aus Dokumentation und Spielszenen eine eindrückliche Annäherung an den Holodomor. Wie Anja Jazeschann zwischen Waschschüssel und Handtüchern die unsäglichen Entbehrungen schildert ist von großer Eindringlichkeit. Nicht anders, wenn Stefko Hanushevsky als Kopelew mit wütender Aggression einer Gruppe Frauen (Mariana Sadovska, Yasia Sayenko) den Boden in Form eines Tuchs unter den Füßen wegzieht. Einziger Wermutstropfen des Abends sind die a capella gesungenen ukrainischen Volkslieder, die allzu vordergründig auf (melancholische) Emotionalisierung und eine falsche Authentizität setzen. Nichtsdestotrotz ein eindrücklicher Abend, der die aktuelle russische Kolonisierungs- und Vernichtungspolitik in einen schlagenden historischen Kontext stellt.
Die Revolution lässt ihre Kinder verhungern | R: André Erlen | 17., 18.5.23 | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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