choices: Herr Schüßler, was reizt einen Regisseur, sich mit Leni Riefenstahl auseinanderzusetzen?
Daniel Schüßler: An der Figur Riefenstahl kann man erkennen, wie diese Gesellschaft nach 1945 mit persönlicher Schuld und Kollektivschuld umgegangen ist und noch heute damit umgeht. Wie erlangt man Erlösung von der Schuld? Kann man überhaupt von Schuld erlöst werden? Ich kann mich natürlich auf die Gnade der späten Geburt herausreden, trotzdem merke ich schnell, dass ich das nicht loswerde. Die Auseinandersetzung mit Leni Riefenstahl hat auch damit zu tun, dass ich, seit ich zwölf war, das Dritte Reich zu begreifen versuche. Was ist da passiert, und was hat sich daraus entwickelt? Auch die 68er und die Punkbewegung wären nicht entstanden, wenn es das Dritte Reich nicht gegeben hätte. Im Prinzip ist das der Nährboden für meine Theaterarbeit der letzten Jahre.
Warum trägt das Stück den Untertitel „Kölner Prozesse“?
Die Formulierung „Kölner Prozesse“ soll einen Assoziationsraum eröffnen. Zum einen holen wir die Nürnberger Prozesse nach Köln und überprüfen, was Entnazifizierung damals bedeutete. „Kölner Prozesse“ steht aber auch für die Prozesshaftigkeit unserer Arbeitsweise. Und es steht für die Untersuchung, wie wir heute mit der Schuld umgehen.
Wo sehen Sie die Schuld von Leni Riefenstahl?
Dass Riefenstahl korrumpierbar war, dass sie Häftlinge aus Konzentrationslagern als Statisten in ihren Filmen eingesetzt hat, ist schlimm genug. Die größere Schuld liegt für mich darin, dass sie nach dem Krieg ihre Biographie geschönt und teilweise verleugnet hat. Also die Weigerung, für das, was man getan hat, einzustehen. Das lässt sich verallgemeinern. Auch Teile der 68er und die RAF schweigen und verdrängen, anstatt nach vierzig Jahren die Verantwortung für das übernehmen, was sie getan haben.
War Leni Riefenstahl nicht einfach nur opportunistisch und naiv?
Ich glaube nicht, dass Leni Riefenstahl naiv war; sie hat eher versucht, sich als naiv zu verkaufen. Riefenstahl verfügte über einen großen Geltungs- und Machtwillen und war eine sehr egozentrierte Persönlichkeit, die über Leichen ging, um an ihre Ziele zu gelangen. In den Anfangsjahren wurde sie bei mehreren ihrer Filmprojekte finanziell stark von dem jüdischen Filmproduzenten Harry Sokol unterstützt. Nach der Machtergreifung der Nazis ließ sie ihn fallen und durch Julius Streicher, den Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“, verklagen.
Mit welchen Schwierigkeiten hat man bei der Auseinandersetzung mit der historischen Figur Leni Riefenstahl zu tun?
Die Schwierigkeit, Leni Riefenstahl auf die Spur zu kommen, liegt darin, dass man ständig oszilliert zwischen der Verachtung für die Verdrängung und der Bewunderung für diese Figur. Sie ist eine schillernde Persönlichkeit, die sogar zur Galionsfigur für die Frauenbewegung hätte werden können. Sie hat in Zeiten, als Frauen alles andere als ein gleichberechtigtes Leben führen konnten, eine enorme Machtposition erlangt; sie hat durch ihren unbändigen Willen in fast allen Bereichen ihres Lebens Standards gesetzt. Nach dem Krieg wurde Leni Riefenstahl zu Recht an den Pranger gestellt, aber viele ihrer männlichen Kollegen nicht. Die Bestrafungsmechanismen funktionierten so, dass eine Frau, die sich in den Machtstrukturen der Männer durchsetzte, von der Gesellschaft nachträglich ausgegrenzt wurde.
Welche Form wird der Abend haben?
Wir werden uns mit Hilfe eines Vollplayback-Chors mit Paul Hindemiths und Oskar Kokoschkas Kurz-Oper „Mörder, Hoffnung der Frauen“ auseinandersetzen, in der sehr viele Schlüsselwörter fallen, die für das Thema Leni Riefenstahl hilfreich sind. Ein weiterer Teil des Abends findet in einer Art Leni Riefenstahl-Bootcamp statt, in dem wir biographische Daten und Stationen aus Riefenstahls Leben abhandeln und einer kritischen Reflektion unterziehen, auch um zu begreifen, wo die Lüge und die Schuld sitzen. Ich habe im Vorfeld der Produktion mit der Autorin Judith Leiß Texte geschrieben, die eine Grundlage für unseren Arbeitsprozess bilden. Zum Beispiel einen Schulddilemma-Chor, in dem wir uns mit der Kollektivschuld und der persönlichen Schuld des Individuums auseinandersetzen.
Inwieweit war Leni Riefenstahl eine politische Künstlerin?
In dem Dokumentarfilm „Die Macht der Bilder“ von Ray Müller behauptet Leni Riefenstahl allen Ernstes, dass wahre Künstler nur unpolitisch sein könnten. Politisch sein heißt für sie, in einer Partei zu sein. Dass Taten und Unterlassungen auch politisch sein können, klammert sie aus. Aber wie kann man unpolitisch sein, wenn man mit Hitler und Goebbels zu Abend isst? Interessant ist für uns die Frage, inwieweit man als Künstler überhaupt unpolitisch sein kann. Geht das überhaupt? Man kann nicht mehr politisches Theater wie in den 70er Jahren machen, sondern man kann nur noch politisch Theater machen. Also versuchen wir, innerhalb der Gruppe Strukturen zu schaffen, die offen sind und erlauben, auch gegensätzliche Positionen, Unsicherheit, Schuld und Verdrängung auf die Bühne bringen.
Welche Nachwirkungen hatte die Ästhetik von Leni Riefenstahl?
Man kann ihren Einfluss in der Fotografie, in der Sportberichterstattung, im Körperkult der Werbung und sogar bis zu Lady Gaga nachverfolgen. Und wenn ich mir die Aufmärsche, die Massen, die klaren Linien in ihrem Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ ansehe, finde ich das auch faszinierend. Die Frage ist aber: Warum fasziniert mich das? Es existiert eine Angst der Nachgeborenen davor, dass einen die Symbole und Bilder in Bann schlagen. Wie können wir die beschmutzten Zeichen benutzen und die Opfer trotzdem ehren? Ich glaube, es hilft nicht, diese Filme zu dämonisieren und zu verbieten. Wir müssen die Bilder immer wieder neu ansehen, sie neu besetzen und bemalen, biegen und brechen und uns so zu einer Haltung zwingen. Das ist das, was ich in meinen Arbeiten immer wieder versuche.
„Leni Riefenstahl – Die Kölner Prozesse“| R: Daniel Schüßler | Studiobühne | 6.(P)/ 7.-10.1., 20 Uhr | 0221 470 45 13 | studiobuehne-koeln.de
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