In Krisenzeiten haben „Verschwörungstheorien“ Hochkonjunktur. Das war nicht nur während der Corona-Pandemie, das zeigt auch der Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Doch wann schlägt kritisches Informationsbedürfnis um in eine Paranoia? Constantin Hochkeppel & Collaborators untersuchen die „Tipping Points“ der Verschwörungstheorien und ihre Verbindung zum Phänomen der toxischen Männlichkeit. Ein Gespräch mit Regisseur Constantin Hochkeppel und Dramaturgin Julia Hagen.
choices: Herr Hochkeppel, Frau Hagen, um welche „Tipping Points“, also Kipp-Punkte geht es?
Julia Hagen (JH):Der Begriff ist den meisten aus der Klimaforschung bekannt. Uns interessieren jedoch mehr die sozialen Kipppunkte. Wir beschäftigen uns mit Verschwörungs-Erzählungen und stellen uns die Frage: Ab wann kippt ein freier Geist, der politische Entscheidungen kritisch hinterfragt und nicht alles glaubt, was man ihm erzählt, wann kippt so jemand plötzlich in eine paranoide Verschwörungs-Angst? Welche Mechanismen kommen da zum Tragen? Welche Bedürfnisse kann unsere Gesellschaft nicht befriedigen, die sich dann Befriedigung in Verschwörungs-Erzählungen suchen?
Entspringt dieses Kippen in „Verschwörungstheorien“ einem Erkenntnisinteresse oder sichert man sich nicht eher gegen Angst und Verunsicherung ab?
JH: Die Gründe, warum Verschwörungs-Erzählungen Menschen ansprechen, sind komplex. Man kann von drei Bedürfnissen sprechen: dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit, dem Bedürfnis nach Kontrolle und dem Bedürfnis nach Verstehen der Welt. Wenn sich allerdings dieses Verstehenwollen paart mit einer Angst vor Kontrollverlust und mit dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit, dann geht es schnell weg von einem Erkenntnisinteresse, das zum Beispiel auch einen Widerspruch zuließe. Es geht uns aber nicht darum, mit dem Finger auf Leute zu zeigen, die Verschwörungserzählungen anhängen. Wir fragen uns, wie nah wir selbst an solchen Kipppunkten sind, ohne es zu merken. Auch wir sind ja verunsichert davon, dass die Welt total kompliziert ist, und sehnen uns nach einfachen Erklärungen.
Herr Hochkeppel, wie verbinden sich diese Kipppunkte mit Bildern von Männlichkeit?
Constantin Hochkeppel (CH): Wir suchen nach Strukturen und Mechanismen, die ein solches Kippen begünstigen. Die zum Beispiel einen Machtanspruch begünstigen; die begünstigen, dass man aus Situationen nicht herauskommen kann, ohne das Gesicht zu verlieren. Wir suchen nach Dynamiken innerhalb der Gruppe, wo wir den Begriff des Kippens ganz körperlich nehmen. Was können Kipppunkte im Körper sein, die mir zum Beispiel etwas darüber erzählen, wie toxische Männlichkeit funktioniert.
Können Sie das konkret an einem Beispiel beschreiben?
CH: Wir suchen zum Beispiel nach einem kreatürlichen Körper, einem nichtmenschlichen Körper, wenn man so möchte, nach dem Tier im Menschen. Wann wird dieses Tier im Menschen nach außen gekehrt? Wann verliere ich die Kontrolle über meinen Körper, aber auch über die Situation, in der ich mich befinde, und verwandle mich in diese Kreatur, die nur noch tierisch, animalisch und triebhaft agiert?
JH: Wir haben uns zum Beispiel mit Panikattacken auseinandergesetzt. Wann kommt mein Körper aufgrund innerer Disposition oder äußerer Vorgänge aus dem Gleichgewicht und kippt in so etwas Tierisches?
CH: Der körperliche Ansatz des Physical Theatre erlaubt uns, Körperbilder zu kreieren, die mehrdeutig sich. Das erlaubt mir, dieses Thema der Verschwörungserzählungen hin zu einer Mehrdeutigkeit zu öffnen. Ausgehend vom Beispiel einer Panikattacke: Wie manifestiert sich das körperlich? Was löst das körperlich in mir aus? Wie kann ich durch diesen körperlichen Vorgang in eine Dynamik mit meinen Mitspielenden gehen und dadurch Mechanismen der toxischen Männlichkeit erzählen?
Körperliche Zustände changieren in ihrer Bedeutung immer zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung. Niemand kann sich von solchen gesellschaftlichen Zuschreibungen freimachen.
CH: Ich glaube, kein Mensch oder kein Mann würde von sich behaupten, dass er toxisch männlich ist. Diese Mechanismen sind allerdings so tief verankert, dass sie sich nicht nur gegen andere richten, sondern in erster Linie gegen einen selbst. Ein aktuelles Beispiel: Ein Kollege von mir ist es an Krebs verstorben, weil er trotz eindeutiger Symptome nicht ins Krankenhaus gegangen ist. Ich führe das, verkürzt gesagt, darauf zurück, dass er sich nicht einzugestehen gewagt hat, dass er krank ist. Das Wichtige ist, dass wir diese Mechanismen, die so tief in unserem Habitus verankert sind, erkennen und aufbrechen. Dabei ist das Fremdbild, das auf mich zurückgeworfen wird oder die Reflexion von jemand anderem wahnsinnig wichtig.
Die nicht minder problematische Kehrseite der Panikattacke oder eines „kreatürlichen“ Verhaltens wäre die umfassende Rationalisierung und Selbstreflexion. Gibt es also auch eine positive Seite dieses Kippens?
CH:Wir haben in dem Maße, in dem wir uns mit Panikattacken beschäftigten, durchaus einen positiven Aspekt beobachten können: und zwar das, was sie bei anderen Menschen auslösen kann. Im Sinne einer Fürsorge und eines Nachfragens, was denn da gerade los ist. Das Tier geht ja in einen Angriffsmodus aus einer Angst heraus. Wie kann man diese Angst ernst nehmen? Wie kann man mit dieser Angst, wie kann man mit dieser Aggression umgehen? Ohne zynisch sein zu wollen, könnte das Positive, wenn man es denn positiv nennen mag, sein: dass eine Panikattacke oder eine Aggression eine Verletzlichkeit offenbart, die es sich lohnt zu hinterfragen. In diesen unverarbeiteten Verletzungen liegen die Gründe für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen. Das ist bei Männern zum Beispiel das Thema Beziehung zum eigenen Vater, die ein Trauma oder eine Verletzung ausgelöst haben kann. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis spricht man gerade befreiter darüber, dass man in Therapie ist. Das ist ein großer Schritt hin zu einer nicht-toxischen Männlichkeit.
Wie verbindet sich denn das Kippen in die „Verschwörungstheorie“ mit einem bestimmten Körperbild?
CH: Es gibt eine ganz offensichtliche Verbindung zwischen toxischer Männlichkeit und Verschwörungserzählungen bei der Incel-Bewegung. Incels denken sich in einen Wahn hinein und versuchen, die eigene, selbstverständlich nur eingebildete Unzulänglichkeit mit Waffengewalt zu kompensieren.
JH: Wir sind zwar noch mitten in der Recherche, aber es wird vermutlich keine konkreten Verschwörungserzählungen auf der Bühne geben. Ich finde es anmaßend, mich darüber lustig zu machen oder zu erheben. Es geht uns darum, Mechanismen und Bedürfnisse klarzumachen und körperlich zu zeigen. Wie kann man eine von innen gefühlte, aber nach außen projizierte Bedrohung körperlich darstellen? Die Erfahrung der Isolation und des mangelnden körperlichen Kontakts, die für Incels typisch ist, wird sicherlich vorkommen. Denn das sind körperliche Situationen, die zu Bedürfnissen führen, die dann wiederum in Verschwörungserzählungen eine Erfüllung finden. Aber die Bilder, die wir dafür gefunden haben, werden so mehrdeutig sein, dass man sie nicht mehr konkret mit Incels in Verbindung bringen kann.
„Tipping Points“ | R: Constantin Hochkeppel | 1.-3.4. 20 Uhr | Studiobühne Köln/Tanzfaktur | 0221 28 01
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