choices: Herr Schüssler, das Analogtheater hat bereits 2006 eine „Lulu“-Produktion herausgebracht. Wieso schon wieder Wedekinds Klassiker?
Daniel Schüssler: Die Studiobühne hat uns vor zwei Jahren gefragt, ob wir zu ihrer Reihe „Aufbruch vor der Barbarei“, die sich mit der Kunstepoche zwischen 1900-1933 beschäftigt, einen Beitrag leisten könnten. Ich wollte zunächst ein Stück zu Oskar Kokoschka und Alma Mahler entwickeln. Dann kam mir aber der Gedanke, mich erneut mit Wedekinds „Lulu“ auseinanderzusetzen. Das Stück signalisiert einen Aufbruch in der Kunst und prescht weit voraus in emanzipatorische Gedanken; andererseits wurde es durch Zensur und Umarbeitungen verstümmelt und der Komponist Alban Berg hat daraus eine Oper gemacht. Diese Vielschichtigkeit, die das Material ermöglicht, reizte mich.
Was hat sich geändert im Blick auf das Stück?
Damals war ich ein junger Regisseur, der mit vier Schauspielern, die gerade von der Schauspielschule kamen, versucht hat, das klassische Formkorsett eines narrativen Erzähltheaters und der Psychologie der Figuren zu unterlaufen. Die Arbeit an „Lulu“ wurde richtungweisend für unsere Arbeit. Jetzt ist für mich spannend, mich nach all den Erfahrungen noch mal mit dem Stück auseinanderzusetzen. Mit einem neuen Schauspielensemble möchte ich den Weg vom klassischen Subjekttheater hin zu einer Auseinandersetzung mit Kunst und Freiheit weiter gehen. Also nicht die Figur Lulu in den Mittelpunkt zu stellen, sondern eher das „Prinzip Lulu“. Die Frage ist, wie man den Stoff in einen gesellschaftspolitischen Kontext heben kann, ohne Wedekinds „Lulu“ sklavisch nachzuerzählen.
Was ist das „Lulu-Prinzip“?
Entstehungsgeschichtlich wird die Lulu häufig als femme fatale dargestellt, die die Männer in den Wahnsinn und in den Tod treibt. Zugleich wird sie von den Männern inszeniert, bekommt ständig neue Namen und neue Kleider. Man sagt ihr, was sie zu tun und zu lassen und wie zu leben hat, wie eine Prostituierte eigentlich. Mich interessiert wie Lulu in diesem engen Rahmen überlebt. Das tut sie, indem sie sich dem Konstrukt, das die Männer für sie entwerfen, anpasst, es aber von innen bespielt und dort ihre Freiräume sucht. Im Prinzip sind wir als Gesellschaft auch eine Art Lulu, die sich verfügbar macht.
… und sich ihre Freiräume sucht?
Ja, genau. Zudem haben wir das Personal auf Lulu, die lesbische Gräfin Geschwitz und Jack Schwarz, einer Mischfigur aus Jack the Ripper und dem Maler Schwarz, der letztlich für alle Männer steht, reduziert. Hinzugefügt haben wir noch so eine Art Moderator oder Regisseur, der die Figuren nach seiner Pfeife tanzen lässt und dadurch alle zu einer Art Lulu macht. Das lässt sich aus dem Prolog des Tierbändigers ableiten, den Wedekind in einer späteren Fassung hinzugefügt hat. Wir wollen untersuchen, welche Gesellschafts- und welche Lebensentwürfen diese Figuren haben. Wo finden sie ihre Freiheiten? Was versuchen sie als Gruppe zu erreichen? Letztlich geht es wie in allen meinen Inszenierungen um die Frage, warum Utopien, z.B. die von 1968, gescheitert sind.
Liegt darin der Grund für den Untertitel „Ein deutscher Traum“?
Bei uns beginnt das Stück mit einer Gruppe, die versucht, ein neues Gesellschaftskonzept zu entwerfen. Sie formuliert ein utopisches Ziel, einen Traum vom Leben und weil das Land, in dem ich das verhandele, Deutschland ist, kann es sich nur um einen deutschen Traum handeln. Dass diese Utopie scheitert, zerstört nicht den Traum. Denn der ist hoffentlich größer als die Zerstörung dessen, was gezeigt wird. Letztlich muss es bei uns, bei allen weitergehen. Das ist der politische Anspruch, den ich habe.
Im Nachklang von 1968 wurde Lulu gerne eine von Männern „imaginierte Weiblichkeit“ zugeschrieben und zugleich die sexuelle Befreiung ausgerufen. Inzwischen sprechen wir von hybrider Identität oder diskursiven Körperkonzepten.
Die sexuelle Befreiung ist eine der großen gescheiterten Utopien von 1968. Dem Prinzip, dass der Mann über eine Frau verfügen kann, wurde dadurch Tor und Tür geöffnet; mit dem Unterschied, dass den Frauen dies jetzt unter dem Deckmantel der eigenen Freiheit verkauft wurde. Das hat sich bis heute im Prinzip nicht geändert. Zwar wurde der Muff unter den Bettlaken gelüftet, etwas wirklich Neues ist daraus jedoch nicht entstanden. Bei uns steht das aber nicht so sehr im Zentrum. Wir bewegen uns mehr im künstlerischen Bereich. Wir werden auf der Bühne ein mit Folien umspanntes, transparentes Zelt haben, in dem sich Lulu aufhält. D.h. die Figur bleibt den ganzen Abend in einem Imaginations- und Kunstraum, in dem sich alles abspielt. Draußen liegt die freie Wildbahn, in der die Schauspieler alle anderen Dinge verhandeln.
Das Stück ist eine wilde Mischung aus Heftchenroman und Mythos, Alltag und Archaik, die mit den Mitteln der Montage, des Zitats, der Pantomime oder der Vielsprachigkeit arbeitet. Spielt das auf der formalen Ebene der Inszenierung eine Rolle?
„Lulu“ lässt sich auch als Auseinandersetzung mit der Kunst generell lesen. Wedekind formuliert darin eine Kritik an der Wiener Kunstszene und am psychologischen Naturalismus, indem er die Figuren in eine fast komisch überzeichnete Künstlichkeit hineintreibt. In Bezug auf Künstler wie Joseph Beuys oder Bewegungen wie den Wiener Aktionismus um Hermann Nitsch und Otto Mühl nähern wir uns dem Stück mit Techniken wie Überschreibung, Neudichtung, Umformulierung, Wegkratzen oder Cut-in-Techniken. Von der Original-„Lulu“ wird nicht viel übrig bleiben. Wir haben Texte z.B. von Jonathan Meese oder der Kommune 1 hinzugefügt. Andere Texte sind durch Improvisation entstanden. Es wird performative Elemente wie Farbschüttungen geben. Insgesamt arbeiten wir über eine sehr bildhafte, musikalische Sprache. Momentan sieht unsere „Lulu“ eher wie ein opernhafter Abend aus.
„Lulu - ein deutscher Traum“ nach Frank Wedekind | R: Daniel Schüßler | Studiobühne (Saal) | 4.5. (Premiere), 5.-8.5., je 20 Uhr | 0221 470 45 13
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