Sieben Monate ist es her, da reißt ein Klopfen an der Zimmertür den deutsch-türkischen Schriftsteller Doğan Akhanlı aus dem Schlaf. Er macht mit seiner Frau Urlaub in Granada, im Hotelflur stehen spanische Polizeibeamte, die ihn abführen. Niemand weiß recht, was los ist, das Polizeigebäude erinnert ihn an das Antiterrordezernat in Istanbul. Einmal mehr Fingerabdrücke, einmal mehr durch eine bürokratische Registrierung, später habe man sogar einen DNA-Test machen wollen. Nach 1975, 1985 und 2010 kommt er zum vierten Mal hinter Gitter; mit dem Betreten der Zelle vermischen sich endgültig Gegenwart und Vergangenheit. Ein Leben der Machtlosigkeit. In den zwei Monaten, in denen die Türkei seine Auslieferung und Deutschland seine Freilassung fordern, beschließt er, zu schreiben – als Form des Widerstandes, wie er nach seiner Rückkehr sagte. Das Buch „Verhaftung in Granada oder Treibt die Türkei in die Diktatur?“ zeichnet seine persönlichen Erfahrungen von Verfolgung, Folter und Freiheitsentzug nach und gibt ein Einblicke in den Wiederstand in einem Land, in dem ständig ein politischer Ausnahmezustand geherrscht habe.
Dabei fing alles einmal ganz harmlos damit an, dass er sich 1975 an einem Kiosk aus Neugierde eine Zeitschrift mit einem roten Stern kaufte. Er und zwei andere „Zufallsopfer“ wurden fast zwei Wochen lang verhört, gefoltert und zu falschen Eingeständnissen genötigt. Bereits damals ging es um regierungsfeindliche Organisationen und angebliche Umsturzpläne. Erst als er viele Jahre später ein Zeitungsinterview mit dem damaligen Hauptkommissar entdeckte, war er sich sicher, sich diese verdrängte Episode nicht eingebildet zu haben. Das Buch bringt die Erfahrungen der Jahrzehnte in einer nicht einfachen Parallelmontage zusammen, sein Abtauchen in den Untergrund nach dem Militärputsch 1980 und die zweieinhalb Jahre Militärgefängnis ab 1985, schließlich das Leben in Deutschland, während die Türkei unter Recep Erdoğan wieder seine Tentakel nach ihm ausstreckt. So wurde er 2010 bei einer Einreise gleich festgenommen und kam vor Gericht – er wurde freigesprochen –, weil er in einen Raubüberfall verwickelt gewesen sei. Akhanlı sieht in Erdoğan seitdem einen zunehmend „faschistoiden Despoten“, der mit „nationalistischen und islamistischen Vokabeln“ eine „juntahaft despotische Politik“ betreibe. Bei diesem Prozess hatte Akhanlı nun erstmals deutsche und Kölner Freunde und Aktivisten hinter sich, die ihn auch 2017 unterstützten.
Während die Türkei zu Erdoğans Hofstaat geworden sei, hat sich Akhanlı in Köln ein neues Leben aufgebaut. In türkischsprachigen Romanen verarbeitet er mitunter das Trauma seiner Vergangenheit und Erinnerungen aus dem Untergrund, aber im vorliegenden Fall auch seine Schuldgefühle als Ehemann und Vater, der immer wieder mit dem Feuer gespielt hat. Was er in Deutschland kennenlernte, war ein offener Umgang mit der Vergangenheit gegenüber der nicht aufgearbeiteten „Gewaltgeschichte“ der Türkei. Es bedürfe einer Auseinandersetzung mit staatlichen Verbrechen und einer Erinnerungskultur, die im Falle der Türkei insbesondere die Massaker an den Armeniern, Kurden und Aleviten nicht leugne und verdränge. In der Türkei alltägliche Begriffe wie „Vaterland“, „Verräter“ und „Märtyrer“ seien mit Gewalt und Mord fest verbunden, glaubt Akhanlı, der sich seit den 90er Jahren intensiv mit Gedenkstätten und türkischer und europäischer Schuld beschäftigt. Dass auch Deutschland, wo er sich ab 1991 zunächst durch die Brandanschläge auf Flüchtlingsheime gefährdet fühlte, den Völkermord an den Armeniern bis 2016 nicht beim Namen genannt hat, empfand er als „nicht hinnehmbar“.
Die jüngsten Erlebnisse Akhanlıs, die nun vielleicht als eine unangenehme Lappalie in die Geschichte eingehen, erweisen sich im Buch als Anlass zum Niederschreiben weniger bekannter oder vergessener Dinge und sind verständlicherweise noch nicht ganz verdaut – die Abschlusskapitel wirken überfrachtet. Als Dokument zum Verhältnis der Türkei zu Menschenrechten bietet das Buch wichtige Innenansichten aus der politischen Verfolgung. Es hat schon etwas Absurdes, dass ein so umgänglicher und gesprächsbereiter Mensch wie er – in Köln kennt man ihn ja ein wenig – immer wieder als Bedrohung für das System erachtet wurde und gerade dadurch seit 1975 nicht leicht einen anderen Weg hätte einschlagen können als den, der ihm dann immer wieder zum Verhängnis wurde, und dass, worauf Günter Wallraff im Vorwort nochmals hinweist, Erdoğan erheblich zum Bekanntheitsgrad des kritischen Schriftstellers beitrage, den er auch verdiene. Trotzdem ist die Rolle, als Ankläger oder Erdoğan-Kritiker aufzutreten, sicher keine, die seinem Naturell entspringt.
Das Bild, das er von der Türkei der letzten Jahrzehnte entstehen lässt, erhebt keinen Anspruch auf historische Endgültigkeit, wie auch das Fragezeichen am Ende des Titels andeutet. Es ist aber auch nicht das eines Staates, der von heute auf morgen so leicht gerecht und demokratisch werden kann. Die Wurzeln der Gewalt und Unterdrückung, die nicht nur von oben ausgeht, reichen tief in die Vergangenheit. Aktuelle Zahlen in der Presse zur Zahl politisch Inhaftierter sowie die Berichte zu Menschenrechtsverletzungen von Amnesty International und Human Rights Watch unterstreichen, dass sich die Lage seit dem Putschversuch deutlich verschlechtert hat. Zugleich betreffen die türkischen Verhältnisse Deutschland in mehrfacher Weise: nicht nur durch die schwierige Türkeipolitik und die in Deutschland lebenden Türken – dass Akhanlı bei seiner Rückkehr schon auf dem Flughafen von einem Türken bedroht wurde, steht nicht mehr in dem Buch –, sondern auch weil bei der Beschäftigung mit der Türkei manche abstrakte Errungenschaft des Westens, die häufig Missbrauch oder Geringschätzung ausgesetzt ist, klarere Konturen annimmt.
Doğan Akhanlı: Verhaftung in Granada oder Treibt die Türkei in die Diktatur? | Deutsch von Hülya Engin | KiWi | 222 S. | 9,90 €
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