Vor rund zehn Jahren erfuhr Istanbul einen enormen Hype – Künstler aus verschiedensten Ländern fühlten sich von der pulsierenden Stadt am Bosporus angezogen. In dieser Zeit wurde das Residenzprogramm „Atelier Galata“ für bildende KünstlerInnen und AutorInnen durch die Partnerstadt Köln ins Leben gerufen, das nun den Rahmen für die Ausstellung „Aufwachen in Istanbul“ in der Werft 5 im Rheinauhafen bildet. Aktuelle und ehemalige Stipendiaten des Galata-Programms zeigen anhand von Fotografien, Videos, Lesungen und Performances, die im Kontext des Aufenthalts entstanden sind, ihren persönlichen Blick auf die Stadt.
Die österreichische Performance- und Medienkünstlerin Evamaria Schaller präsentiert großformatige Fotografien: Im Mittelpunkt ihrer Arbeit „Fremdkörper #15“ sieht man eine komplett verhüllte Person mitten in einer Landschaft sitzen. Die Silhouette, unklar ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, wirkt in ihrer abstrakten Form verloren – ebenso in ihrer Arbeit „Fremdkörper #5“, in der eine Person in ähnlicher Position mitten auf einer Baustelle sitzt und umstehende Menschen sie misstrauisch beobachten. An den Wänden des Ausstellungsraums finden sich immer wieder Textpassagen von Bastian Schneider, der das Stipendium 2017 erhalten hat und zuvor an der Universität für angewandte Sprachkunst in Wien studierte. Er konzentriert sich auf Alltagsbeobachtungen, die er prägnant und dennoch detailgenau formuliert.
Der Hype um Istanbul scheint aufgrund der extremen politischen Veränderungen und der damit verbundenen Repressionen abgeklungen zu sein. Wie sich das jetzige Leben dort speziell für KünstlerInnen unter den erschwerten Lebens- und Arbeitsbedingungen gestaltet, war der Schwerpunkt einer Gesprächsrunde mit Vertretern der Istanbuler Kulturszene bei der Vernissage: Ist es mittlerweile zu gefährlich als Künstler zu arbeiten oder gerade deshalb notwendig?
Diskussionsteilnehmer waren der Schriftsteller Alper Canigüz, bekannt durch seinen ersten Roman „Tatli Rüyalar“ („Die Verwandlung des Hector Berlioz“), der Performance-Künstler und IPA (international performance association)-Mitbegründer Burçak Konukman und Orhan Esen, der sich als Historiker intensiv mit Stadtforschung und -entwicklung beschäftigt. Ergänzt wurde die Runde durch die Moderatoren Gerrit Wustmann, ehemaliger Galata-Stipendiat, und Aydin Üstünel, bekannt aus WDR-Cosmo.
Überraschend an der Diskussion war, dass auch positive Seiten der urbanen Transformation im öffentlichen Raum genannt wurden: So habe laut Esen die Verknappung der Mittel und Möglichkeiten als KünstlerIn zu arbeiten, einen Filter auf die Qualität der Kunst zur Folge. Im Gegensatz zur der Zeit, in der Istanbul gehypt wurde, könne man nun viel „Echtes“ entdecken. Er betont, dass die Gesellschaft zwar gespalten sei, aber in der Stadt auch viel Positives passiere: „Man darf nicht nur auf die leere Seite des Glases gucken, sondern auch auf die volle.“
Ein großes Thema der Diskussion war außerdem die extrem schnelle Veränderung Istanbuls in Bezug auf Größe und Bebauung. Auf die Frage, wie er zu dieser Entwicklung, die beispielsweise Platzmangel und die Schädigung historischer Bauten zur Folge hat, steht, antwortete Esen: „Wir sind hier im historischen Hafenbereich von Köln, oder?“ Natürlich verändern sich Städte – nichtsdestotrotz waren sich die Gesprächsteilnehmer darüber einig, dass die Veränderung in Istanbul besonders schnell voranschreitet. Fast niemand finde noch den Ort oder das Haus, in dem er aufgewachsen ist, erzählt der Schriftsteller Canigüz.
Istanbul sei lange eine selbstgenügsame Stadt gewesen, man habe nahezu alles selbst produziert, erläutert Esen. Nun wandle sich der Zeitgeist der Menschen, die seit mehreren Generationen Städter sind, zu dem Wunsch hin, urbane Landwirtschaft wiedereinzuführen. Die neuen Städter, die sich gerade zu einer neuen Mittelklasse entwickeln, wollen hingegen das Bäuerliche hinter sich lassen und sich von Erde und Schmutz distanzieren: „Das ist in Deutschland schon im 19. Jahrhundert passiert. In der Türkei ist das erst eine Geschichte nach dem 2. Weltkrieg.“ Der Grund für die große Unterstützung Erdogans sei in seinen Augen „ein Krieg zwischen der neuen und der alten Mittelklasse“.
Schließlich wurde auf den sogenannten Exodus Istanbuler Künstler nach Berlin eingegangen, der zur Folge hat, dass oftmals automatisch davon ausgegangen wird, man ginge als Künstler auf jeden Fall aus der Türkei nach Berlin. Konukman berichtet, man habe ihn auf einer Veranstaltung 2015 in Istanbul als Künstler, der zwischen Istanbul und Berlin oszilliert, vorgestellt, obwohl er mehrmals daraufhin hinwies, in Gießen zu arbeiten. Auf der anderen Seite könnten seine Freunde aus Istanbul nicht verstehen, warum er in eine kleine Stadt gezogen ist. Jedoch sei das Leben in Istanbul und Berlin sehr teuer geworden – er möchte in einer Stadt leben, die er sich leisten kann. Das aufkommende Phänomen, dass Künstler, die von Istanbul nach Berlin ziehen, die Verbindung zu ihrer Heimatstadt abbrechen, kann Konukman nicht verstehen.
Trotz der aktuellen politischen Situation wird das „Atelier Galata“ für 2018 erneut ausgeschrieben (Bewerbungsfrist: 31.10.17). Gerade jetzt sei ein Künstleraustausch zwischen den Partnerstädten Köln und Istanbul wichtig, auch um die Szene in Istanbul zu stärken, heißt es in der Stellungnahme der Stadt Köln.
Aufwachen in Istanbul – Istanbul’da Uyaniş | bis 4.11. | Werft 5 im Kunsthaus Rhenania | werft5.de
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