15 Jahre sind eigentlich keine allzu lange Zeit – im Freien Theater allerdings bedeuten sie fast eine Ewigkeit. Wer alljährlich um Fördergelder kämpfen muss, nur geringe Honorare zahlen kann oder als Gruppe über kein eigenes Haus verfügt, der darf schon von einem kleinen Jubiläum sprechen, wenn er so lange durchgehalten hat. Vor 15 Jahren hat Regisseur Daniel Schüßler das Analogtheater ins Leben gerufen. Es wird nicht groß gefeiert, aber vielleicht ist es ein Zeichen, dass die nächste Produktion mit „Die Psychonauten: Rausch“ überschrieben ist. Ein Gespräch mit Regisseur Daniel Schüßler.
choices: Herr Schüßler, die nächste Produktion des Analogtheaters beschäftigt sich mit dem Rausch. Ist unsere Gesellschaft zu vernünftig?
Daniel Schüßler: Politisch befinden wir uns in einer Phase, in der sowohl das Individuum viel stärker thematisiert wird und zugleich der Nationalstaat in den Vordergrund rückt. Versteht man den Nationalstaat als Gegensatz zum Phänomen der offenen Grenzen, könnte man ihn auch als Fortsetzung der Individualisierung beschreiben. Damit aber werden die Spielräume der Freiheit und des Erprobens enger. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft ein hohes Sicherheitsbedürfnis hat. Inwieweit das der Vernunft entspringt, ist eine andere Frage. Wir beschäftigen uns vor allem damit, dass Grenzen eine größere Bedeutung bekommen, dass sie enger gezogen werden.
Geht es vor allem um den individuellen oder um den gesellschaftlichen Rausch?
Im Zentrum steht der gesellschaftliche Rausch. Es geht darum, welche Funktionen der Rausch in unserer Gesellschaft hat und welche Substitute es gibt, um einen Rausch zu erzeugen. Deshalb geht es nicht um Drogen wie Alkohol oder Rauschgift, sondern um das Verhältnis des Individuums zur rauschhaften Masse und um die Gefühlszustände, die im Rausch hervorgerufen werden. Unser Stück beschäftigt sich eher auf einer abstrakten Ebene mit dem Rausch des Nationalismus, mit dem Rausch einer schneller werdenden Gesellschaft, mit dem Tempo, vielleicht auch mit dem Blutrausch. Abstrakt gefasst: Es geht um das Aufgehen des Individuums in der Masse.
Wie nähert sich man sich auf der Bühne dem Rausch der Masse, wenn man keinen Chor auf der Bühne hat?
Die Reihe Psychonauten versucht eher das Formale und die Funktion des Rausches für das Ich zu untersuchen ohne eine große Menge an Menschen auf die Bühne zu bringen. Die Emotionen und Gefühlszustände des berauschten Ichs in seiner Auflösung in der Masse lassen sich allerdings schwer beschreiben. Dafür fehlt uns die Sprache. Deshalb haben wir eine eigene Kunstsprache entwickelt, die einerseits dieses Unbeschreibbare nochmals verstärkt, andererseits den „Stream of Consciousness“ zum Sprechen zu bringt. Dadurch sollen diese inneren Prozesse anschaulich gemacht und nicht so sehr das Publikum kognitiv angesprochen werden. Die Performer spielen also nicht den Reichsparteitag oder Goebbels Sportpalastrede nach, sondern sie probieren formale Gruppen- und Entgrenzungssituationen aus und die textuelle Ebene denkt darüber nach, was da eigentlich passiert. Auf dieser formalen ästhetischen Ebene werden diese Rauschzustände mithilfe verschiedener Künste untersucht: Musik, Performance, Bühnenbild und Projektion erzählen dabei ihre jeweils eigene Geschichte.
Wir erleben in Europa derzeit eine Rückkehr des Nationalismus. Lässt sich nachvollziehen, warum so viele Menschen sich dazu hingezogen fühlen?
Für die Leute, die da mitmachen, scheint es identitätsstiftend zu sein. Man möchte einfache Antworten, man möchte einen starken Führer haben und sich als Teil einer Gruppe fühlen, die privilegierter ist als andere. Verbunden ist das mit einer vereinfachten Weltsicht, die es für viele einfacher macht, sich dem hinzugeben. Man könnte das als Rausch bezeichnen, weil es ähnlich wie ein Virus um sich greift und weite Teile Europas in seinen Bann zieht. Ich habe das Gefühl, dass die Probleme in Deutschland bereits 2006 mit der Weltmeisterschaft anfingen, als man von einem positiven Nationalgefühl sprach. Damals wurden die Tore für den Nationalismus wieder geöffnet. Ich persönlich brauche das nicht. Ich glaube, dass eine bessere Welt ohne Grenzen und Nationalismus auskommt. Das heißt nicht, dass man nicht seine regionale Identität lebt. Ich trinke gerne Wein aus Frankreich und fahre nach Georgien und erlebe gerne, wie die Menschen da drauf sind. Dafür brauche ich aber keinen Nationalismus.
Wenn wir vom einer rauschhaften Masse sprechen, landet man sehr schnell, auch historisch, bei Fragen von Macht und Gewalt.
Es geht uns auch darum, die Dinge mal aus einem anderen Blickwinkel anzusehen. Man muss nicht immer die Perspektive des Täters einnehmen. Es kann zum Beispiel etwas Rauschhaftes auch in der Opferperspektive liegen. Die Gegenüberstellung vom bösen Täter und dem guten Opfer ist zu einfach. Wir erleben in der Gesellschaft derzeit, dass das Opfertum auch dafür benutzt wird, um sich abzugrenzen und gemeinschaftsstiftend zu wirken.
Wie sähe ein positiver Rausch für Sie aus?
Es gibt Raves, wo der Massenrausch absolut legitim ist oder meinetwegen auch beim Fußball in bestimmten Grenzen. Ich persönlich finde es interessant, wie man in einer Gruppe sein und sich darin auflösen kann. Mir zum Beispiel fällt das schwer. Selbst wenn ich auf einem Konzert oder in einem Fußballstadion bin, habe ich immer eine merkwürdige Außenperspektive drauf. Wie ein soziologisches Auge, das denkt: Da komme ich nicht ganz rein. Und wenn ich da mitmache, komme ich mir immer eine wenig gefaket vor.
Inwieweit wirkt der Rausch integrativ?
Jeder Rausch hat auch etwas Ausschließendes. Ob auf LSD oder Alkohol oder eben in gesellschaftlichen Massenbewegungen; immer werden die anderen ausgeschlossen, die nicht berauscht sind – was letztlich systemimmanent ist.
„Die Psychonauten: Rausch“ | R: Daniel Schüßler | 11. - 15.9. 20 Uhr | Studiobühne | 0221 470 45 13
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