Schon wenige Bilder vermögen die Kunstgeschichte zum Leben zu erwecken. Das passiert jetzt im Wallraf-Richartz-Museum. Dieses rekonstruiert in seinem Obergeschoss jene Sonderbund-Ausstellung, die vor 100 Jahren in Köln stattfand und einen Überblick über die damalige internationale Avantgarde lieferte. In einer Ausstellungshalle, die von der Brüsseler Weltausstellung angekauft und an der Aachener Straße errichtet worden war, gab es rund 650 Exponate zu sehen: Bilder, Skulpturen und kunsthandwerkliche Objekte. Zu den herausragenden Künstlern zählten – als Vertreter der älteren, anregenden Generation – Cézanne, Gauguin, Vincent van Gogh, Munch wie auch Paul Signac, und unter den jüngeren befanden sich, nach Nationen geordnet, die Künstlergruppe der „Nabis“ und Picasso, Ferdinand Hodler, Oskar Kokoschka und Egon Schiele sowie die deutschen Künstler der „Brücke“ und des „Blauen Reiter“, die als einzelne präsentiert wurden.
Die Stadt Köln war 1912 auf dem Weg zu einer erstklassigen Kulturmetropole. In den Jahren zuvor waren das Kunstgewerbemuseum, das Opernhaus, das Rautenstrauch-Joest-Museum und die Sammlung Schnütgen eingeweiht oder eröffnet worden, der Grundstein des Museums für ostasiatische Kunst wurde gelegt. Die Stadt florierte. Seit der Reichsgründung vor drei Jahrzehnten hatte sich die Bevölkerungszahl vervierfacht, das Volkseinkommen mehr als verdoppelt. Mit der neuen Hohenzollernbrücke war eine direkte Zugverbindung zwischen Paris und Berlin möglich, mit Köln als Mitte. Folglich passte die Sonderbund-Ausstellung, die 1909 als jährliches Ereignis in Düsseldorf gegründet worden war, ins Profil der Domstadt. Die Veranstalter durften von den Besuchern eine große Aufgeschlossenheit gegenüber der Moderne erwarten. Aber gab es nicht doch Zweifel, ob die unkundige Bevölkerung mit den neuen Darstellungsweisen, der Lösung der Farbe von der Form, den zersetzten und verschobenen Körpern und den expressiven Dehnungen der Figuren, überhaupt der Abkehr vom Realismus und der Hinwendung zu Formen der Abstraktion nicht überfordert sein könnte? Ein Ehrenausschuss mit Honoratioren und Kunstprofessoren wurde eingesetzt, welche die Seriosität der Veranstaltung bezeugten, und neuartige, engagierte Formen der Vermittlung wurden verwendet. Die Ausstellung wurde mit Plakaten beworben, in der Ausstellung selbst gab es Kurzführer, ein Erfrischungsraum war eingerichtet worden. Die Präsentation selbst war das, was man heute als kuratiert bezeichnen würde: Sie war mit Bedacht geordnet und präsentiert. Die Wände waren weiß, erstmals hingen Bilder linear nebeneinander – damit gilt die Sonderbund-Ausstellung 1912 auch als Vorläufer heutiger Großausstellungen. Im Zentrum der Halle war eine Kapelle eingerichtet worden, die 13 Meter hoch und mit den Glasfenstern von Jan Thorn-Prikker ausgestattet war. Die Wände und die Decke waren mit Stoffbahnen verkleidet, die Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner bemalt hatten.
Aber es half nur bedingt. Während die Fachbesucher, die sogar aus Amerika kamen, über die Kunst und das Ambiente ihrer Präsentation schwärmten, waren die Laien ratlos. Die Zeitungskritik war überwiegend vernichtend: „Auch in der Plastik sieht man Sonderbares und es wird wohl außer den ganz auserlesenen Hohepriestern der neuen Lehre niemand ohne Kopfschütteln diesen Tempel der Zukunftskunst verlassen“, schrieb der Kölner Stadt-Anzeiger im Mai, und später spricht die gleiche Zeitung vom „schädlichen Einfluß der Schreckenskammer oder des Lachkabinetts am Aachener Tor“. Und Picassos „Versuche, die Dinge kubisch zu sehen“, waren dem Kölner Tageblatt „nichts mehr als die Exzentritäten eines kranken Geistes“. Beklagt wurde der Einfluss von Frankreich auf die deutsche Kunst, die noch durch die älteren Künstler getaktet war …
Ein Wiedersehen alter Bekannter
Wie vorausschauend die Sonderbund-Ausstellung 1912 tatsächlich war und dass sie die wirklich wichtigen Künstler präsentierte, das sehen wir nun 100 Jahre später. Die Kunstwerke hängen längst als Hauptwerke in den großen Museen der Welt – umso schwieriger war es, nun einen Teil davon wieder zusammen zu bringen. Das Wallraf-Richartz-Museum zeigt rund 120 Exponate zwischen Postimpressionismus, Expressionismus und dem frühen Kubismus. Herzstück der aktuellen Ausstellung ist der Mittelraum, um den herum Räume verlaufen, welche die verschiedenen Abteilungen und nationalen Beiträge zusammenfassen. Auch ein schwächer besetztes Kapitel wie die konservative Malerei der Düsseldorfer Veranstalter ist zu sehen und trägt dazu bei, sich von der Qualität und dem Radikalen der anderen Bilder zu überzeugen.
Im Mittelraum des Wallraf-Richartz-Museum sind die meisten der Vorreiter der Moderne versammelt. Zu den ausgestellten Meisterwerken gehören gleich 15 Gemälde von Vincent van Gogh, dessen Werkgenese infolgedessen profiliert ist. Toll ist natürlich auch ein Künstler wie August Macke mit „Rokoko“, das 1912 entstanden ist, also ganz frisch nach Köln kam. Vom Orphismus beeindruckt, spricht es mit der Zerlegung der Fläche die Synästhesie der Wahrnehmung an. Aus dem Bestand des Wallraf-Richartz-Museums stammen die „Vier Mädchen auf der Brücke“ (1905) von Edvard Munch. Eine ältere Version von 1902, bei der drei Mädchen am Geländer lehnen, ist übrigens derzeit im Museum Folkwang in Essen zu sehen, innerhalb der Ausstellung „Im Farbenrausch“, die sich der gleichen Zeit wie die Kölner Ausstellung widmet, aber den Schwerpunkt auf die französischen „Fauves“ und die deutschen Expressionisten legt. Auch diese Ausstellung sollte man sich anschauen – sie rundet das Bild der Kunst dieser Zeit weiter.
„1912 – Mission Moderne“ I bis 30.12. I Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud in Köln I www.wallraf.museum
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