Das kleine Balg ist erstaunlich groß. Es trägt zwar noch Schnuller und Strickmützchen, kann auch noch nicht sprechen, misst aber bereits geschätzte 1,75 m. Ein Riesenbaby (Paul Basonga), das als imaginäres Wunschobjekt und Projektionsfläche fungiert und deshalb als für die Familie unsichtbarer Running Gag durch Gerhart Hauptmanns Klassiker „Vor Sonnenaufgang“ geistert. Regisseur Moritz Sostmann und Bühnenbildner Christian Beck haben eine Welt für Riesen entworfen: Der Tisch, die Stühle, die Haushaltgegenstände - alles viel zu groß für die verzwergt wirkenden Figuren. Sie mühen und strecken sich, turnen hinauf und hinab, verschwinden wie Kinder unter dem Tisch. Moritz Sostmann, der in seinen Inszenierungen gerne mit Puppen arbeitet, macht die Protagonisten diesmal selbst zu Puppen. Wie bedrohlich und komisch die Welt der Dinge sein kann, wussten schon die Commedia dell'arte und der Slapstick. Und dass der Kapitalismus die Zahl der Dinge um den Menschen unendlich vermehrt, auch in ihrer Symbolik, und gleichzeitig als Antidot lächerliche Minimalismus- oder Downgrade-Träume reifen lässt, weiß man inzwischen auch.
Sostmann spielt allerdings nicht Hauptmanns Original, sondern Ewald Palmetshofers Stück-Überschreibung. Aus der im Bergbau reich gewordenen Bauern-Familie, die Arbeiter ausbeutet und allmählich im Suff ertrinkt, wird eine reiche Mittelschicht-Familie aus der Autozuliefererindustrie. Vater Egon trinkt, seine zweite Frau Annie pocht verzweifelt auf soziale Etikette. Die hochschwangere Tochter Martha mit Hang zur Depression hat den jungen Thomas geheiratet. Der wiederum hat den Betrieb übernommen, macht mit rechtspopulistischen Parolen Politik und sieht sich bedroht durch den plötzlich auftauchender „linken“ Jugendfreund Alfred. Hat schon Palmetshofer den Sozialkonflikt massiv entschärft, wird bei Sostmann daraus eine schlichte Groteske.
Der Egon des Daniel Nerlich, der in Schlafanzug und Bademantel in der Kneipe rumhängt, ist ein lächerlicher Schwadroneur, den Anja Laïs‘ Annie als Verweserin bürgerlicher Etikette kaum im Zaum halten kann. Nikolaus Benda als Thomas mit Sugar Daddy-Shirt zu Jeans und Jackett samt strähnigen Haaren gibt einen ziemlich reaktionsschnellen Opportunisten mit feinster Witterung. Er riecht sofort, dass sein früherer Freund Alfred (Thomas Müller mit krähendem Diskant) nicht aus alter Verbundenheit kommt. Der Schlagabtausch zwischen beiden, also rechtspopulistischer Opportunismus versus linke schimärische Ideale geht mindestens unentschieden aus.
Dazwischen lamentiert Thomas‘ Frau Martha (Katharina Schmalenberg) mit groteskem Schwangerschaftsbauch vor sich hin, während ihre Schwester Helene (Rebecca Lindauer) ihr berufliches Versagen hinter überheblicher Distanz zur Familie verbirgt. Der Abend plätschert in seiner grotesken Zurichtung angenehm komisch dahin, man bewundert die Artistik und Spielfreude der Akteure. Dramatische Spannung entsteht kaum, aber schon bei Palmetshofer geht es ja eher um Mittelschichtprobleme, die als Abgrund oder Hölle zu dramatisieren, nachgerade lächerlich erscheinen.
Vor Sonnenaufgang | R: Moritz Sostmann | 4., 8.2. | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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