Würde der Bundeskanzler, ob mit oder ohne Augenklappe, dem nichts ahnenden Bürger unversehens ins Haus schneien, dürfte das erst einmal für Verwirrung sorgen. Nicht anders geht es dem Müller und seiner Familie in Bahram Bezaies Stück „Yazgerds Tod“, als der König plötzlich vor der Tür steht. Kurze Zeit später allerdings liegt der Monarch mausetot auf der Erde, was ein absurdes Whodunit-Spiel in Gang setzt.
„Yazgerds Tod“ wurde 1979 während der Machtübernahme der iranischen Mullahs verfasst, hat aber einen historischen Hintergrund: Im Jahr 651 fand der persische König Yazgerd III. im Kampf gegen arabische Feinde den Tod. Bahram Bezaies Stück ist deshalb Historiendrama, politisches Stück und brechtische Parabel zugleich. Ästhetisch ist es vor allem letzter Punkt, an dem Regisseurin Mina Salehpour mit ihrer Vorliebe für ein hochästhetisiertes, formalisiertes Spiel andockt. Vor einer gewaltigen kreisrunden Scheibe, die als Mühlstein oder Mond lesbar ist, öffnet sich eine durchbrochene, nach vorne abfallende, halbrunde Mauerhälfte (Bühne: Afsoon Pajoufar). In ihrer Mitte ein Sand belegter Spielkreis, in dem sich das lehrstückhafte Geschehen abspielt.
Kaum haben der General (Andreas Grötzinger) und der Priester (Kei Muramoto) ihr Todesurteil über den Müller (Stefko Hanushevsky) gesprochen, behauptet die kniend bettelnde Müllerfamilie, der König sei schon tot in der Mühle eingetroffen. Als der folterlustige Soldat (Alexander Nerlich) den Müller an den Schläfen packt und der Müllerin (Elmira Bahrami) brutal zwischen die Beine greift, wirft sich die Familie in ein sich ständig wandelndes Reenactment des monarchischen Besuchs und präsentiert immer neue Versionen. Erst wird behauptet, der König habe sich auf der Flucht vor den Feinden selbst töten wollen, dann heißt es, er habe den Müller aufgefordert, ihn zu töten, in einer weiteren Abwandlung soll der König die Tochter (Rebecca Lindauer) vergewaltigt haben und ein Opfer der Rache geworden sein. Abwechselnd schlüpfen Vater, Mutter und Tochter in die unterschiedlichen Rollen. Derjenige, der den König verkörpert, hält die Hand wie einen Hahnenkamm über den Kopf. Untermalt wird das von einem düster dräuenden Sound (Musik: Mark Bérubé).
Da Mina Salehpour das Spiel emotional völlig auskühlt, lässt sich kaum sagen, ob die Familie aus Verzweiflung um ihr Leben spielt oder aus Lust ihr Verwirrspiel treibt. General, Priester und Soldat werden auf der Suche nach der Wahrheit immer verwirrter. Die Behauptungen werden absurder, am Ende kommt sogar ein Identitätstausch ins Spiel. Die Parabel prangert nicht nur autoritäre Willkür an, sondern zeigt auch, dass Geschichte immer der Interpretation unterliegt, gerade auch in autoritären Regimen. Wenn der Priester strenge Moralvorschriften propagiert, die Müllerin aber nach Brot verlangt oder auf schwarze Richter hingewiesen wird, ist zudem die iranische Gegenwart sehr nah. Zwingend ist das allerdings nur zum Teil, genauso wie die etwas willkürliche Vielsprachigkeit im zweiten Teil. Trotzdem überzeugt der Abend mit seiner ästhetischen Strenge, vor allem aber mit seiner Rätselhaftigkeit – und worum sonst geht es in der Kunst?
Yazgerds Tod | R: Mina Salehpour | 8., 14.10. | Schauspiel Köln | 0221 22 12 84 00
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