Seit einem Vierteljahrhundert richtet die Studiobühne das Festival theaterszene europa aus. Das frühere Studententheatertreffen hat sich längst zum Begegnungsort professioneller Gruppen gemausert. Diesmal treffen deutsche Gruppen auf Gäste aus der Schweiz. choices hat mit Tobias Brenk, dem Dramaturgen der Kaserne Basel, über Freies Theater in der Alpenrepublik gesprochen.
choices: Herr Brenk, gleichgültig ob in Bern, in Basel, in Luzern oder Zürich, die deutschsprachige Schweiz scheint überzogen zu sein von Produktionszentren. Welche Bedeutung haben sie für die Freie Szene?
Tobias Brenk: Die Schweizer Produktionshäuser lassen sich mit denen in Deutschland durchaus vergleichen. Durch die geringen Entfernungen ist die Vernetzung aber viel stärker. Wir tauschen uns aus, koproduzieren miteinander und besuchen regelmäßig Premieren. Weiterhin ist es auch ein Anliegen der Geldgeber wie z. B. die Pro Helvetia, das Migros Kulturprozent oder die Ernst Göhner Stiftung, dass wir eng kooperieren. Für die Freie Szene ist diese Form der vernetzten Zusammenarbeit äußerst wichtig.
Gibt es überhaupt Häuser, die strukturell anders aufgestellt sind?
So eine Struktur wie in Köln mit diesen vielen kleinen Privattheatern haben wir hier in der Schweiz nicht. In der deutschsprachigen Schweiz gibt es aber eine Vielzahl an Stadttheatern, Freien Häusern, sowie eine Freie Szene, die durch eine breite und großzügige Unterstützung der Kommunen und Stiftungen finanziert wird. Trotz der Förderung können die Freien Häuser hier aber nur kleine Koproduktionsbeiträge an Gruppen vergeben.
Wie finanzieren sich die Gruppen?
Die meisten Gruppen haben ihre Basis in einer Stadt, die zusammen mit den Kantonen die Hauptfinanzierung in Form von Projektzuschüssen übernimmt. Hier in Basel sind das zum Beispiel Boris Nikitin oder CapriConnection, die vor ein paar Jahren beim Impulse-Festival auch in Köln zu sehen waren. Das können Projektförderungen sein, die zwischen 10.000 und 60.000 Franken betragen – selten gibt es Beiträge darüber. Es gibt aber auch finanzielle Unterstützung für Wiederaufnahmen und Gastspiele. Gruppen, die nicht aus Basel kommen, aber mit hiesigen Institutionen zusammenarbeiten, können kleinere Koproduktionsgelder beantragen.
Können Sie anhand der nach Köln eingeladenen Gruppen ein paar ästhetische Merkmale der Freien Szene in der Schweiz beschreiben?
Die eingeladenen Produktionen sind ästhetisch sehr unterschiedlich und zeigen, wie breit das Theaterschaffen in der Schweiz ist. „The bianca Story“ zum Beispiel ist eine Pop-Band, die über die „Theatertage Treibstoff“ zusammen mit dem Regisseur Daniel Pfluger zum Theater gefunden hat. In Köln ist jetzt die zweite Produktion „M & The Acid Monks“ zu sehen, die stellvertretend für eine junge Musiktheater-Szene steht und genreübergreifende Formen zwischen Pop, Performance, Bildender Kunst und Theater entwickelt. Das spiegelt auch den programmatischen Ansatz der Kaserne Basel wider. Wir verstehen uns als Ort für Performing Arts, und das schließt neben Theater und Tanz auch Konzerte ein. In der Schweiz gibt es häufig eine enge, spartenübergreifende Arbeit in den Häusern, die Theater und Musik programmieren.
Was können Sie sonst noch nennen?
In dieser Auswahl ist das Collettivo Spettatori etwas Besonderes. Die Gruppe ging aus der Scuola Teatro Dimitri im Tessin hervor, an der man Bewegungstheater und Zirkus studieren kann. Ein Unikum in der Ausbildungslandschaft der Schweiz mit einer ganz eigenen Ästhetik. Schauplatz International“ wiederum zählt bei dem Kölner Festival für mich zu den wichtigsten Repräsentanten der Schweizer Szene. Sie konzentrieren sich mit „Spielplatz“ auf das, was zu dem Markenzeichen geworden ist: ein intellektuelles Gedankenspiel in einem Bühnenformat so zu verpacken, dass sogar Kinder einen Riesenspaß daran haben können!
Wie steht es mit dem Nachwuchs in der Schweiz?
Als Carena Schlewitt, die Leiterin der Kaserne Basel, und ich nach Basel kamen, wurde uns gesagt, in Basel gebe es keine Freie Szene. Wir haben dann allerdings schnell festgestellt, dass hier sehr interessante einzelne Künstler leben, die sehr gut vernetzt sind. Marcel Schwald ist Basler, hat aber Verbindungen nach Utrecht, Boris Nikitin hat in Gießen studiert, Corinne Maier in Hildesheim – alle kamen wieder zurück nach Basel. Diese Künstler bilden mit CapriConnection und anderen ein enges Netzwerk, das ein Vorbild für den Nachwuchs ist. Außerdem gibt es hier spezielle Fördermechanismen für junge Künstler: die erwähnten Theatertage Treibstoff oder den Wettbewerb Premio, bei dem Newcomer 20 Minuten eines Konzepts präsentieren. Anders als in Köln gibt es in Basel nur wenige Vertreter der „alten Freien Szene“. Dadurch sind die Mittel viel flexibler und gleichzeitig konzentrierter einsetzbar.
Wie stark ist die deutschschweizerische Freie Szene mit der deutschen Szene verzahnt?
Viele Theatermacher leben halb in Deutschland und halb in der Schweiz. Dadurch entsteht eine enge Verbindung zwischen den Szenen. Außerdem koproduzieren wir regelmäßig mit den einschlägigen deutschen Häusern wie Hebbel am Ufer in Berlin, Mousonturm in Frankfurt oder FFT in Düsseldorf. Das nächste Stück von The Bianca Story zum Beispiel soll zusammen mit der Deutschen Oper Berlin entstehen.
Noch eine letzte Frage: Was verbirgt sich hinter dem Kulturparlament in Basel?
Das Kulturparlament ist ein neues Projekt im Rahmen der Reihe „Kunst trifft Politik“ von ACT, dem Verband der Theaterschaffenden der Schweiz. Es geht darum, den Austausch zwischen Politik und Kunst zu fördern und ein informelles Kennenlernen der Mitglieder des Stadtparlaments und der Künstler der Freien Szene zu ermöglichen. So können beide Seiten erfahren, unter welchen Bedingungen sie arbeiten.
„theaterszene europa“ | Studiobühne Köln | 18.-25.5. 20 Uhr | 0221 470 45 13 | www.studiobuehne.uni-koeln.de
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