„Thema über Sex.“ So beginnt Orpheus sein kurzes Gedicht. Und so deutlich in der Wortwahl fährt der Dichter auch fort: „Zwischen Mann und Frau. Die Frau will mit mir Sex machen will. Und wenn er mehrmals Sex gemacht hat, da kommt die Babys raus. Dann geht zum Krankenhaus und ist schwanger. Und dann kommt die Ärzte und die holt das Baby aus der Scheide.“
Dieses zunächst einmal ungewohnt anmutende Gedicht „Über Sex“ findet sich im Buch „Sexistenz: Nahaufnahmen“, das Teil des gleichnamigen Projektes ist, welches der Verein Blinde und Kunst zusammen mit dem Kulturfestival „sommerblut“ aktuell in der Ausstellungshalle „Art68“ ausrichtet. Auf diverse Arten haben sich dafür Menschen mit Behinderung mit dem Thema Sexualität auseinandergesetzt. So liegen die Texte nicht nur gedruckt vor, sondern werden gelesen von professionellen Schauspielern und vertont mit experimenteller Jazzmusik auf einer Zusatz-CD auch als „Audiopoeme“ präsentiert.
Natürlich kann man diese auch in der Ausstellung selbst auf sich wirken lassen: mit Kopfhörern oder am 15.5. um 20 Uhr live bei einer „musikalischen Lesung“. Außer Musik und Text gibt es im Rahmen von „Sexistenz: Nahaufnahmen“ auch noch Bilder der Hamburger Künstlergemeinschaft „Die Schlumper“ zu sehen. Zu jedem einzelnen ist eine eingesprochene Beschreibung abrufbar, sodass auch Blinde die Werke vor ihrem inneren Auge sehen können.
Die Initiatoren von „Sexistenz: Nahaufnahmen“ wollen durch das Projekt bewusst mit Tabus brechen und verdeutlichen, dass Menschen mit Behinderung keineswegs asexuell sind. Wie alle anderen Menschen auch haben sie eine Sexualität, die sie frei ausleben können sollten. Leider ist diese Selbstbestimmung in der Praxis selten möglich. „Repressive Regulierungen, Kontrollen und Praktiken in Einrichtungen und Familien unterdrücken Menschen mit starken Körperbehinderungen oder sogenannten ‚geistigen Behinderungen’ in ihrer Sexualität“, so beschreibt der blinde Soziologe und Leiter des Projekts Dr. Siegfried Saerberg in seinem Vorwort zum Buch die gegenwärtige Lage.
Es muss also Aufklärungsarbeit geleistet werden und wie immer beim Thema Sex findet sie auch bei den „Nahaufnahmen“ im moralischen Grenzbereich statt. Vor allem beim Betrachten der freimütigen Bilder der „Schlumper“ mögen sich sittsame Naturen fragen: „Noch Kunst oder schon Pornographie?“ Doch wenn sich das Auge erst mal ein wenig an die zahlreichen Geschlechtsteile und kopulierenden Pärchen gewöhnt hat lautet das Urteil: „Eindeutig Kunst!“
Denn die „Schlumper“ setzen sich nicht nur kreativ mit ihrer Sexualität auseinander, sondern auch so vielschichtig, wie es diesem facettenreichen Faszinosum angemessen ist. So hängen zwei mit bunter Kreide gemalte Männer mit bizarren Masken und riesigen, erigierten Penissen direkt neben einem Pärchen aus schwarzer Pappe, das in seiner Formensprache an ein Kultobjekt erinnert und sich in kindlicher Liebe an den Händen fasst. Auf anderen Bildern erscheint die Sexualität mal als kühle Erotik und mal als mysteriöse Perversion.
Wer aber meint, es bei den Bildern der „Schlumper“ zwangsläufig mit einer „art brut“, einer von Reflexion und Diskursen unbeeinflussten und damit reineren Kunst zu tun zu haben, der täuscht sich. Auch in ihren Werken klingt die Kunstgeschichte an, manchmal nur subtil im Stil, manchmal aber auch sehr direkt im Motiv, wie auf einem Bild, das eine nackte Frau darstellt, die einer anderen in die Brustwarze kneift – ein deutliches Zitat des berühmten Gemäldes „Gabrielle d'Estrées und eine ihrer Schwestern“.
Sexualität, Behinderung, Freiheit, Beeinflussung, Perversion … „Sexistenz“ stellt viele kontroverse Begriffe in den Raum, über die man lange nachdenken kann. Kurz: Ein durchaus anregendes Projekt.
Ausstellung „Sexistenz: Nahaufnahmen“ | bis 17.5. | Art68 | www.art68.de
Musikalische Lesung „Sexistenz“ | Do 15.5 20 Uhr | Art68 | www.art68.de
Theaterstück „Sexistenz: Nahverkehr“ | 15.-17.5. 20 Uhr | KAT 18 Kunsthaus | www.kunsthauskat18.de
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