Günter Seeck ist mit sechs Monaten an Poliomyelitis erkrankt und sitzt seitdem im Rollstuhl. Der Wahlkölner und gelernte Bürokaufmann arbeitet im Zentrum für selbstbestimmtes Leben (ZsL), einer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung. Betroffene beraten Betroffene „aus der eigenen Betroffenheit, sozusagen“, erklärt uns Seeck. Er ist außerdem einer von etwa 150 Teilnehmern, die Pfingstmontag (24.5.) an der Mad Pride in Köln teilnehmen. Die Parade, die seit 2015 im Rahmen des Sommerblut Kulturfestivals stattfindet, verspricht eine bunte und laute Party, in der die Andersartigkeit gemeinschaftlich und inklusiv gefeiert wird.
Mit Billie-Marie Wempe, Inklusionsbeauftragte des Sommerbluts, und Günter Seeck haben wir über besondere Begegnungen, neue Erfahrungen, über Inklusion, Solidarität und Akzeptanz gesprochen.
choices: Günter, wie bist du Teil der Mad Pride geworden und warum nimmst du teil?
Günter Seeck: Die Parade habe ich vor ungefähr fünf Jahren auf dem Ebertplatz kennengelernt und mir gedacht: „Was ist das für ein Haufen?“, und dass ich da mitmachen muss. Wir sind eben anders als andere und das wollen wir feiern. Würde die Veranstaltung nicht stattfinden, dann würde die Made Parade,– dann würden *wir* in Vergessenheit geraten.
Billie-Maria Wempe: Die Grundidee und Wichtigkeit der Mad Pride ist, dass wir Präsenz zeigen als Menschen, die am Rand der Gesellschaft sind und eigentlich doch mittendrin.
Was macht die Mad Pride so besonders für euch?
G: Wir hatten schon einige bunte Leute dabei und unter anderen Umständen lernt man sich nicht so leicht kennen. Aber bei der Parade trifft man sich an den verschiedensten Plätzen und feiert zusammen. Ich habe schon viele neue Leute kennengelernt, zu denen ich immer noch Kontakt habe.
Es geht also darum, Präsenz zu zeigen und auch untereinander Begegnungen zu schaffen?
B: Auf jeden Fall! Ich finde es toll, was für Menschen im Rahmen so einer Parade aufeinandertreffen. Man sieht zum Beispiel Senior:innen, die im Rollstuhl sitzen und mit Leuten tanzen, die nicht im Rollstuhl sitzen. Und wenn man die Leute danach fragt, die nicht so viele Berührungspunkte zu Menschen mit Behinderungen haben, dann sind sie manchmal ganz froh, dass so eine Plattform geboten wird. Wir sehen uns als Vermittler:innen: Wenn ihr unsere Welt mitkriegen wollt, dann kommt mit und macht mit! Wir sind da und wir haben Bock zu tanzen, rumzuschreien und Witze zu reißen. Alle, die mitgehen und das mitgestalten, treffen sich außerdem einmal im Monat und entwerfen Ideen oder Mottos. Ein wichtiges Thema ist dabei immer Solidarität: dass wir miteinander, untereinander und zueinander solidarisch sind.
G: Egal was wir sind!
B: Genau. Egal, was wir sind, und egal, in welche Schublade wir gesteckt werden. Wir stehen für Solidarität und für Akzeptanz. Wir wollen verbinden und Begegnungen kreativer und sozialer Art schaffen. Einen Austausch untereinander, den es nicht gibt, wenn man die Leute nicht zusammenbringt. Inzwischen gibt es auch einige Gruppen, die jedes Jahr auf die Mad Pride zählen und für die es ein Highlight ist, auf die Straße zu gehen und laut die eigene Meinung zu sagen.
G: Wenn ich durch die Straßen von Köln fahre, werde ich natürlich auch gesehen. Aber die Mad Pride schafft Berührungen, die man auf der Straße nicht so leicht kreieren kann. Da gibt es oftmals auch negative Begegnungen.
B: Auf der Straße spricht man sich nicht so einfach an und stellt Kontakt her, egal ob behindert oder nicht. Da herrscht noch zu viel Schamgefühl in unserer Gesellschaft. Die Mad Pride bietet einen Rahmen zum Kennenlernen.
Es sind also alle eingeladen mitzufeiern und euch kennenzulernen?
G: (lacht) Natürlich. Du kannst auch mitmachen!
B: Das stimmt. Wir sprechen zwar immer explizit die „Verrückten“ an; laden Blinde und Taube, Freaks und Psychos, Transen und Tunten, B-sondere und A-soziale, Suchtis und Sensibelchens, Autisten und Downis ein, aber wir inkludieren wirklich alle.
Der einzige Haken ist, dass die Parade in diesem Jahr als Auto-Demo stattfindet. Wie wird das Ablaufen?
G: Wir wollen feiern, aber im geschlossenen Auto finde ich das diesmal problematisch. Wir können im Auto natürlich rumhampeln, aber zu Fuß fände ich es schöner.
B: Durch die Auflagen der Polizei ist keine normale Demo zu Fuß erlaubt und da die Parade im letzten Jahr schon ausgefallen ist, haben wir uns gesagt, dass sie in diesem Jahr unbedingt stattfinden muss. Es dürfen insgesamt 50 Autos und 50 Fahrräder teilnehmen, die sich am Montag um 13 Uhr auf dem Neptunplatz in Ehrenfeld versammeln. Um ein bisschen Stimmung zu machen, haben wir Kartons und Deko vorbereitet, die wir den Leuten anbieten, falls sie nicht schon selbst Flaggen designt oder besprüht haben. Unser Anspruch ist vor allem laut und bunt zu sein. Um 14 Uhr geht es dann die Venloer Straße runter, durch die Innenstadt bis zum Heumarkt, über die Deutzer Brücke bis zur TanzFaktur in der Siegburger Straße. Dort findet um 16 Uhr das Kulturfinale statt, das traditionell der Abschluss des Sommerblut Festivals ist. Da wir den Festivalzeitraum jedoch bis Ende 2021 ausgeweitet haben, ist es eher ein symbolisches Ende, leider ohne Publikum. Es gibt eine Gesprächsrunde mit Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft und Expert:innen des Alltags sowie musikalisches Programm. Die Show kann im Live-Stream auf www.sommerblut.de verfolgt werden.
Der Schwerpunkt des Sommerblut Festivals 2021 ist „Natur“. Wird das Thema auch innerhalb der Mad Pride umgesetzt?
B: Wir schließen uns bei der Mad Pride immer dem Thema des Festivals an und wollen natürlich auch Kultur- und Naturbegegnungen schaffen. In der abschließenden Gesprächsstunde geht es dann auch um Natur. Zum Beispiel um Behinderung und Natur, um Natur und Teilhabe oder Natur und Zugänglichkeit. Da kann man ganz viel aus unserer Sicht zu erzählen und ich denke, dass es da auch viel Beratungsbedarf gibt.
Mad Pride | Mo 24.5. ab 14 Uhr | Startpunkt: Neptunplatz, Ehrenfeld | www.sommerblut.de
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