Am Ende erheben sich 150 Besucher im vollbesetzten Kinosaal der JVA-Ossendorf: Das Publikum zollt 13 jungen Inhaftierten aus der Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf minutenlang Respekt für einen emotionalen Gastauftritt im Rahmen des diesjährigen Sommerblutfestivals. Vorausgegangen sind 90 Minuten Reflexion über Ängste, Mut, Schuld, Vergebung und die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben.
Im selbstkonzipierten Stück „Knock Out“ kämpfen die Darsteller gegen ihre Dämonen und für die Befreiung der verschütteten Menschlichkeit. Das Werk unter der Regie von Elisabeth Pleß (unterstützt von Boxtrainer Oliver Winter) offenbart in Monologen, Dialogen sowie musikalischen Einlagen das seelische Befinden der Protagonisten als zum ewigen Kampf Verurteilte, die sich von den Niederschlägen der Realität nicht auszählen lassen dürfen.
Geprägt von innerer und äußerer Zerrissenheit
Das Intonieren eines Gebets, die Rezitation des Briefes einer Mutter an ihren eingesperrten Sohn oder die Interaktion mit dem Publikum (darunter 30 inhaftierte Personen aus der JVA-Köln) intensivieren die Produktion, an der das Team rund drei Monate arbeitete. „Was ist der Mensch?“ lautet eine zentrale Frage im Werk, die das mitunter verschüttete Streben nach Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Gleichheit aufzeigt. Damit greifen die Macher eine Maxime des Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau auf: „Der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben“, bilanziert dieser in seiner Betrachtung über jene Spezies, die von innerer und äußerer Zerrissenheit geprägt ist. Von der Geburt an als Verwundete in die Welt gestoßen, suchen die Individuen nach Erlösung und bauen indes Schutzwälle um sich, die nach Zerstörung verlangen. Im Sonnenuntergang der Hoffnungen gleicht der Wütende nicht selten einem Schattenboxer, der verzweifelte K.O.-Schläge gegen das verschwindende Ich ansetzt, doch final selbst fällt. In der Inszenierung hinter Stahltoren, Stacheldraht und Beton erhebt sich wieder und wieder der Wille zur unbedingten Leidensbereitschaft.
Mit des Menschen zweifelnder wie schwärmender Natur beschenkt, beleuchtet „Knock Out“ verhüllte Umrisse des Daseins als Gefängnis, dem ein steter Wunsch nach Flucht vor der Vergänglichkeit inneliegt. Jene von Gerichten schuldig gesprochenen Väter, Söhne, Brüder und Freunde auf der Bühne, denen die Zeit rückwärts tickend durch die Venen pocht, bilden trotz aller Kampfansagen ein fragil anmutendes Kollektiv, das für seine sensible Performance von den Kölnern zurecht stürmisch gefeiert wird.
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