Unser Musical spielt in der Kanalisation und heißt „Der Gully des Schreckens“. Doch, Moment, als der Mann von der KVB auftritt, wird daraus: „Der Jully des Schreckens“. Dieses Musical, so wie wir es an einem Mittwoch Anfang August gesehen haben, wird jedoch so nie wieder aufgeführt. Man wird die Ohrwürmer von „Wir sind hier unten, in der Kanalisation“ nie wieder los und kann das Ganze nur weitererzählen. Denn dieses Musical war komplett improvisiert. Zu Beginn quälen die Darsteller sich noch etwas mit den auf der Bühne markierten Quadraten: Beim Spielen muss man 1,5 Meter Abstand halten, beim Singen 3 Meter – bei der Improvisation darf man eigentlich nicht zu sehr im Kopf sein.
Doch die neuen Hindernisse auf der Bühne werden mit Humor aufgenommen. Die Zigarette anzünden? „Okay, ich schmeiß‘ dir die rüber, dann machste mir die an, und dann wirfste mir die zurück – dat machen wir hier so.“ Auch Butterbrote (ohne Butter und ohne Brot) wandern auf diesem Wege von Abflussbewohnerin zu Abflussbewohner, ebenso Meerschweinchen, Krokodile und Löffel; letztere im Laufe des Abends als Zahlungsmittel etabliert. Eine Umarmung, das bedeutet, sein Gesicht an eine mobile Plexiglasscheibe zu klatschen, um dem anderen möglichst nahe sein zu können. Die fünf Darsteller aus dem Bonner Springmaus-Ensemble erreichen im Publikum gelöste Stimmung, Spannung und auch mal Fremdschämen, als ein Song über die „weibliche Geilheit“ entsteht – aber wenn man einmal in der Nummer drinhängt, kann man sie nun mal auch nicht abbrechen.
Musicals – eine eigene bunte Welt
Die Mitglieder aus dem Ensemble, Vera Passy, Sandra Sprünken, Annika Bullmahn, Lars Kalusky und Gilly Alfeo, haben in der Vorbereitung ihre Musicals studiert, das merkt man: So können auch die vom Publikum reingerufenen Stile umgesetzt werden. Da erwachen die Untoten aus ihren Gräbern wie in „Tanz der Vampire“, auf wippenden Motorrädern geht es à la „Bat Out of Hell“ durch das Röhrensystem der Kanalisation und auch „Mamma Mia“ wurde natürlich gewünscht. Hinter Glasscheiben sitzen die Musiker Tobias Schneider und Paul Hombach an Schlagzeug und Keyboard, und auch sie improvisieren schlagfertig, reagieren auf Stichworte, geben Themen vor, zu denen auf der Bühne Gesang entsteht.
Eigentlich besteht allein schon das Schauspielerteam aus neun Leuten, mit so vielen kann man derzeit jedoch nicht auf der Bühne stehen, berichtet Gilly Alfeo. „Wir müssen dann halt Kompromisse eingehen, damit es hinkommt mit dem Hygienekonzept.“ Für die jetzige Kerntruppe musste es auch möglich sein, für die einmonatige Dauer des Projekts in Köln zu wohnen – so reduzierte sich das Ensemble schon ganz von allein. Corona habe erst einmal den ganzen Probenplan umgeworfen, doch so habe man auch Zeit gewinnen können. Die Darsteller konnten vor der ersten Aufführung mehrere Tage am Stück in den Räumen der Volksbühne proben. Das heißt beim Impro-Theater: Achtsamkeiten schulen für das, was im Raum geschieht, Musical-Klischees einüben, Singen und Storytelling trainieren.
Verunsichertes Theaterpublikum
Mitte Juni gab es das erste Mal wieder eine konventionelle Springmaus-Show, ansonsten ist das Impro-Musical nun ihr erstes regelmäßiges Programm seit dem Kulturcrash Mitte März. Der Plan dafür stand schon vor Corona. Im letzten Jahr gab es vier improvisierte Musicals, im vorletzten drei. Für die Musical-Aufführungen im August seien für jeden Spieltag zirka 100 Karten verkauft worden, für manche Termine auch mal 200. Viele Karten wurden jedoch schon vor der Krise erstanden. Man hofft nun, dass die Angst nicht zu groß wird und sich auch genügend Zuschauer in den Saal trauen.
Dort sind zwei Reihen Sitze gleich komplett ausgebaut, manch einer findet die Nummer auf seiner Karte nicht, da der Platz gar nicht mehr existiert. Zur jazzigen Einführungsmusik findet daher noch eine Viertelstunde vor Beginn ein kleines Bäumchen-Wechsel-dich-Spiel im Zuschauerraum statt. Hat man schließlich einen Platz eingenommen, kann man die Maske auch abnehmen. Nur zum Reinrufen, das manchmal vom Publikum gefragt ist, soll der Atemschutz noch einmal aufgesetzt werden.
„Aus der Schockstarre aufgetaucht“
„Wir arbeiten immer mit der neuesten Verordnung“, erzählt Axel Molinski, Geschäftsführer des Theaters. „Alle vierzehn Tage verändert sich das, momentan ist diese bis zum 12. August gültig.“ Mit einer Sondergenehmigung der Stadt war die Volksbühne das erste Haus, das bereits Anfang Juni in Köln wieder öffnen durfte. „Wir sind aus der Schockstarre aufgetaucht.“ Seit April lockt das Haus mit dem Video-Talk „Einen Flügel Abstand“.
Man merke, dass der Lockdown zwar auf Knopfdruck durchgesetzt wurde, „für den Restart muss man jedoch die ganze Klaviatur bedienen“, sagt Molinski in der goldenen Eingangshalle des Theaters.
Wichtig sei es, das Vertrauen des Publikums zu gewinnen und zu zeigen, dass die etablierte Qualität auch weiterhin geboten werde. Die Kapazität des Saals wurde geschrumpft, er fasst nun immer noch stattliche 250 Personen. „Zum Glück haben wir in den Jahres 2018 und 19 gut gewirtschaftet“, fährt der Theaterleiter fort, „außerdem profitieren wir von der Soforthilfe und einem Topf für nicht geförderte Theater.“ Das Bespielen des Saals ist derzeit teurer als die Schließung. Doch: „Wir sind den Künstlern und dem Publikum verpflichtet. Natürlich würden wir gerne möglichst schnell wieder in den Normalbetrieb gehen.“ Weitere Fördermittel von Stadt und Land werden dazu jedoch notwendig.
Neben der Schaffung schöner Worte wie „Schildkrötophilie“ ist der Hit des Abends übrigens der spontane Song „Isch bin der Mann von der KVB, der KVB, der KVB“, mit einer Mariechen-Tanzeinlage auf Abstand und tränenlachendem Publikum. In der zweiten Hälfte merkt man, dass die Springmäuse ihr ganz großes Musical auch genießen. „Wer, wenn nicht wir Impro-Leute, kann auf die neue Situation reagieren?“ bemerkt Gilly Alfeo. „Wir haben immer daran geglaubt, dass das geht.“
It’s My Musical! | bis 30.8., Do-Sa 19.30 Uhr, So 17.30 Uhr | Volksbühne am Rudolfplatz | 0221 25 17 47
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