Sollte man zu Weihnachten einen Gutschein für ein Musical-Event unter dem Tannenbaum finden, so wird die Entscheidung nicht leichtfallen. Denn allerorts brennen die Künstler darauf, auf die Bühne zurückzukehren und das „ausgehungerte“ Publikum zu unterhalten. Einige Premieren unter eingeschränkten (Corona-)Bedingungen gaben schon im Herbst einen Vorgeschmack auf das Musical-Feuerwerk, dass erst 2022 in voller Blüte erstrahlen wird: vom Klassiker „Anatevka“ (Theater Hagen) bis hin zur „Berlin, Berlin“-Revue im Kölner Musical Dome.
Aber ehe Marlene Dietrich, die Comedian Harmonists und Josefine Baker in diesem musikalischen Rückblick auf die 1920er Jahre den sprichwörtlichen Tanz auf dem Vulkan wieder aufleben lassen (15.-20. März), verschönt uns noch Disneys berührende Liebesgeschichte „Die Schöne und das Biest“ (bis 2. Januar) die Nach-Weihnachtszeit. So richtig einheizen dürften den Musical-Fans die 24 fetzigen Queen-Songs, die das Gerüst von „We will Rock You“ bilden (1.-13. Februar). Etwas ruhiger geht es dann bei der „The Simon & Garfunkel Story“ (22. + 23.März) zu, die uns auf eine fesselnde Zeitreise durch das Leben und die Lieder des legendären Folk-Rock-Duos mitnimmt. Tanz in höchster Vollendung bietet vom 5. bis 10. April dann das „Ballet Revolucion“ aus Kuba, das, phantasievoll eingekleidet vom „König der Highheels“ Jorge Gonzáles, ein tänzerisches Feuerwerk zu internationalen Hits und elektrisierenden, kubanischen Rhythmen abbrennt. Der Abschluss der ersten Tournee-Serie im Musical Dome ist dann der nicht totzukriegenden „Rocky Horror Show“ (3.-15. Mai) vorbehalten, bei der man allerdings seine Kinder besser zu Hause lassen sollte.
Genauso wenig „jugendfrei“ ist Carsten Kirchmeiers brillante Inszenierung des Broadway-Hits „Avenue Q“ am Gelsenkirchener MIR: In der New Yorker „Sesamstraße für Erwachsene“ treffen sich Puppen und reale Personen zu einer politisch unkorrekten Abrechnung mit Sexismus, Rassismus, Homophobie und sozialer Ausgrenzung.
Aktuelle Probleme lugen auch immer wieder zwischen den (Lied-)Zeilen des 1905 im russisch-ukrainischen spielenden „Anatevka“ hervor, dass Thomas Weber-Schallauer am Theater Hagen mit viel Sinn für Atmosphäre inszeniert hat. Gespielt und gesungen von einem Ensemble, dass wie aus einem Guss wirkt – und dem Ricardo de Nigris authentisch wirkende Choreographien in die Füße geschrieben hat. Wie immer steht und fällt das Stück mit der Hauptfigur des Milchmannes Tevje, dem Ansgar Schäfer eine bühnenfüllende Präsenz verleiht, ohne seine Kollegen an die Wand zu spielen. Und natürlich sind es die wunderbaren, zwischen Humor, Tragik und Romantik angelegten Melodien von Jerry Bock, die diesen berührenden Musical-Abend abrunden.
Den unbekannten Jerry Bock konnte man – leider nur an vier Abenden – im Theater und Konzerthaus Solingen kennenlernen, wo die Musical-Studierenden der Essener Folkwang Universität der Künste ihre Abschlussarbeit präsentierten: Das leider hierzulande kaum gespielte „She Loves Me“. Dabei erreichte die Verfilmung („Rendezvous nach Ladenschluss“, 1940, Regie: Ernst Lubitsch) des Komödien-Originals „Parfümerie“des ungarischen Autors Miklós László mittlerweile Kultstatus, der Titelsong des Musicals eroberte in den 1960er Jahren die Charts. Und Nora Ephron brachte 1998 eine erfolgreiche Neuverfilmung mit Meg Ryan und Tom Hanks („e@mail für Dich“) in die Kinos. Und wenn man nun die Spielfreude der angehenden Musical-Stars unter der Anleitung ihres Dozenten Gil Mehmert – einem unserer innovativsten Musical-Regisseure – sieht und die mitreißenden Songs hört, fragt man sich, warum diese Romanze zwischen zwei in anonymen Briefwechsel stehenden Liebenden, die nicht wissen, dass sie in Wirklichkeit Arbeitskollegen in einem kleinen Budapester Kaufhaus sind, nicht längst unsere Musical-Bühnen erobert hat.
Diesen Gedanken müssen sich die Fans von Monty Python‘s „Spamalot“ nicht machen, das mittlerweile zum Repertoire städtischer Bühnen gehört. Meist allerdings weniger den abgedrehten britischen Humor treffend, dafür mehr den schenkelklopfenden, deutschen – mit oft ordinärem Griff unter die Gürtellinie. Das alles verkneift sich Regisseur Roland Hüve, der eine der originellsten Interpretationen des Kult-Musicals liefert und seine „Ritter der Kokosnuss“ auf eine wahrhaft amüsante Reise durchs Mittelalter schickt. Wobei nicht nur die Artus-Sage, sondern auch der Broadway ihr Fett abbekommen – und Ruhrpott-Ikone Helge Schneider als „Gott“ mit einer Videobotschaft zugeschaltet wird. So kann man in Hagen diese Spielzeit mit „Anatevka“ und „Spamalot“ gleich zwei wunderbare Musical-Abende verbringen. Wenn man diese Reihenfolge einhält, kann man auch entdecken, wie liebevoll und intelligent Hüve und sein Choreograph Eric Rentmeister ihre „Anatevka“-Antipoden parodieren. Und mit Carolin Soyka (als Fee vom See) und Maurice Daniel Ernst (als Herbert) eine unserer wenigen, broadwayreifen Musical-Diven und einen unserer vielversprechendsten Newcomer auf die Bühne schicken. Chapeau!
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