Wenn man sich von den immer wieder faszinierenden, ultramarinblauen Schwammreliefs des französischen Konzeptkünstlers Yves Klein im Foyer des MiR losgerissen hat, erwartet einen mit Jürgen Kirners Bühnenbild zu „Hello Dolly“ die nächste Überwältigung. Eine überdimensionale, altmodische Registrierkasse, aus der die Protagonisten samt (Opern-)Chor „springen“, symbolisiert den Handlungsort der ersten Szene: einen Farb- und Malerbedarf-Laden in Yonkers, einem Vorort von New York, im Jahre 1890. Dessen mürrischer und geiziger, gleichwohl steinreicher Inhaber Horace Vandergelder hat die Heiratsvermittlerin Dolly Levi beauftragt, ihm eine Partnerin zu suchen, die „morgens den Flur putzt und abends die Trepp“. Dolly meint sie in der New Yorker Hutmacherin Irene Molloy gefunden zu haben, zu der sich Horace aufmacht, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Zufälligerweise kommen auch Vandergelders Lehrlinge Cornelius und Barnaby, die die Abwesenheit ihres Chefs zu einem heimlichen Ausflug nach New York nutzen, in ihrem Laden. Da es dort auch noch die reizende Auszubildende Minnie gibt, ist das Chaos bald perfekt. Als Irene Vandergelder zurückweist, bemüht sich Dolly um einen „Ersatz“. Alle landen schließlich in Dollys Stammlokal Harmonia Garden, wo Vandergelders Nichte Ermengarde und ihr Verlobter Ambrose auftauchen. Allmählich wird klar, dass Dolly es eigentlich auf Horace abgesehen hat – und des Widerspenstigen Zähmung beginnt.
Die auf John Oxenfords Posse „A Day Well Spent“ aus dem Jahr 1835 basierende Geschichte, die Johann Nestroy 1842 für sein Singspiel „Einen Jux will er sich machen“ adaptierte und die 1954 mit Thornton Wilders „The Matchmaker“ ihre endgültige Fassung fand, wurde 1964 durch die Musical-Version „Hello Dolly“ von Jerry Herrman (Musik, Liedtexte) und Michael Stewart (Buch) zu einem der erfolgreichsten Broadway-Stücke. 2844 Aufführungen am Stück erlebte die Uraufführung, der weitere erfolgreiche rund um den Erdball folgten. Nur die Verfilmung 1969 geriet zum Flop – trotz der Musical-Ikone Gene Kelly auf dem Regiestuhl und der eigentlich zu jungen, aber grandiosen Barbra Streisand in der Titelrolle – und stürzte die Produktionsfirma Twentieth Century Fox fast in den Ruin. Die Zeit der großen Film-Musicals war nach dem weltweiten Blockbuster „Sound of Music“ (1965) offensichtlich vorbei.
Umso erfreulicher, dass sich nun das MiR, das sich mit zahlreichen, deutschen und europäischen Musical-Erstaufführungen wie „Die Hexen von Eastweek“ und „Big Fish“ einen Namen gemacht hat, an einen der unverwüstlichen Klassiker und eines der großen Tanz-Musicals wagt.
Als Regisseur konnte man wieder das Gelsenkirchener „Gewächs“ Carsten Kirchmeier gewinnen, der mit den eher dem off-Broadway zuzuschreibenden Musicals „Avenue Q.“ und „… tic, tic, Boom“ gerade am MiR großen Erfolg feierte und dort 2014 mit Leonard Bernsteins „On the Town“ auch schon mal am großen Broadway schnuppern konnte.
Bei der Inszenierung von „Hello Dolly“ kann eigentlich nicht viel schief gehen, solange der Regisseur die wichtigsten Charakteristika des Stücks verinnerlicht. Wie kaum ein anderes Musical steht und fällt es mit der Titelfigur. Darüber hinaus ist „Hello Dolly“ vor allem Tanz, Tempo, Rhythmus und Timing.
Mit der Grand Dame des MiR, Anke Sieloff, die schon in vielen Opern- und Musical-Hauptrollen brillierte, hat Kirchmeier die Idealbesetzung für die charismatische Heiratsvermittlerin gefunden, die gesanglich und schauspielerisch immer den richtigen Ton trifft und es auch versteht, sich tänzerisch unauffällig ins Ensemble zu integrieren. Im Zusammenspiel mit Dirk Weiler (als Horace Vandergelder) nutzt sie dessen bisweilen hölzernes Spiel nicht aus, um sich in den Vordergrund drängen, sondern lässt ihn mit seiner angenehmen Singstimme glänzen.
Leider bietet die Inszenierung den Nebenfiguren wenig Raum zur Entfaltung, sodass Sebastian Schiller und Nicolai Schwab als Vandergelders ausgebeutete Angestellte das komische Potential ihrer Rollen nicht wirklich umsetzen können. Julia Heiser kann ihrer Irene Molloy schon mehr Profil verleihen, auch wenn sie Beata Kornatowska in ein unvorteilhaftes Zirkus-Kostüm gesteckt hat. Sonja Hebestadt (als Minnie) trägt mit entwaffnendem Selbstbewusstsein ihre Naivität zur Schau. Alina J. Simon (als Ermengarde) und Jonathan Guth (als Ambrose) wirken dagegen wie Fremdkörper in dieser Inszenierung, weil die Regie sie nicht typengerecht besetzt hat und völlig alleine lässt.
Während die Neue Philharmonie Westfalen (Leitung: Peter Kattermann) diese kleinen Unebenheiten mit den fulminant umgesetzten, schwungvollen Kompositionen von Jerry Herrman überdeckt, kann man das größte – und eigentlich unverständliche – Manko dieser Inszenierung nicht übersehen. Dem renommierten Choreographen Paul Kribbe gesteht man nur ein zwölffüßiges Tanzensemble zu, was dessen gewohnten Einfallsreichtum völlig ausbremst und „Hello Dolly“ letztlich seiner Seele beraubt. So geht beim Finale im „Harmonia Garden“ nicht die (Kellner-) „Post“ ab – es findet lediglich eine unterhaltsame Boulevardkomödie mit hübschen, dankenswerterweise im englischen Original belassenen Songs ihr vierfaches Happyend.
Hello Dolly | 28.4, 5., 20.5., 1., 22.6., 7.7. | Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen | www.musiktheater-im-revier.de
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