Das letzte Jahr der Ruhrkohle ist zu Ende – die Theatersaison aber noch lange nicht. Und so kehren sie noch einmal zurück auf die Theaterbühne: die staubigen Malocher aus dem Pütt. Sie sind die Gräber des schwarzen Goldes und werden angelockt von der Stadt der tausend Feuer: Gelsenkirchen alias Mahagonny. Die Idee, auf der Regisseur Jan Peter seine Version der Brecht/Weill-Oper vom Aufstieg und Fall gleichnamiger Phantasiestadt gründet, hat ihren Charme. Doch die Regie bleibt schnell in den Details stecken und verlässt sich lieber auf comichafte Überzeichnung.
Jan Peter hatte einst sein Gelsenkirchener Debüt als Videokünstler bei einem Schalke-„Oratorium“ gegeben. Auch bei seinem Regieeinstand spielt der Film eine Rolle. In Originalaufnahmen folgt der Zuschauer den amerikanischen Truppen beim Einmarsch ins Ruhrgebiet: der Ortseingang von Gelsenkirchen-Bismarck ist zu sehen. Auf der Bühne fliehen Begbick, Fatty und der Dreieinigkeitsmoses vor den „Konstablern“ der Alliierten. Fatty entledigt sich rasch noch ihrer Hakenkreuz-Armbinde, Moses hingegen wird seine SS-Mütze noch lange mit sich herumtragen. Die trägt er zur Gummischürze eines Schlachters, unter der seine nackten Beine in weißen Socken und „Adiletten“ hervorragen. Mit seiner Augenklappe und der künstlichen Glatze, über die lange, spärliche Haarsträhnen gekämmt sind, erinnert dieser Moses etwas an den bösen Oberst Sponsz aus Hergés Comic-Klassiker „Tim und Struppi“.
Mit solchen schrillen Überzeichnungen möchte Peter den spröden, belehrenden Duktus des Brecht-Librettos aus den späten 1920ern durchbrechen. Zu diesem Zweck lässt er seine Darsteller sogar mehrfach zur Kettensäge greifen. Indes vergeblich: Auch mit sehr ausgeprägtem Sinn für tiefschwarzen Humor betrachtet, erscheint das nicht lustig. Oder sollte es doch eher schockieren? Brecht als Splatter-Movie ist auf der Bühne aber auch kein echter Schocker. Die zweite Hälfte des Abends gerät – trotz Kettensägensplatter – sogar ausgesprochen zäh.
Und was so vielversprechend mit einer Verquickung von Lokalgeschichte und Brechtscher Dystopie begann, versandet immer mehr, weil auch immer weniger passt. Den von der Fresswelle der Nachkriegszeit erfassten Jakob, der sich an Würsten zu Tode frisst, will man noch gerne einordnen, Jos Tod beim Preisboxen sicher irgendwie auch. Aber die Bergleute als enthemmte Meute, die das Ruhrgebiet im Angesicht der weltweiten Atomkriegsgefahr in ein Sodom und Gomorrha verwandeln, sind dann doch ein eher abwegiger Gedanke. Man muss dem Regisseur, der 1966 in der DDR zur Welt kam und dort aufwuchs, wohl nachsehen, dass er eindeutig nicht „auf Kohle geboren“ wurde.
Musikalisch ragen unterdessen zwei Stimmen besonders positiv hervor: Martin Homrich singt einen angenehm kernigen und strahlenden Holzfäller Paul, und Anke Sieloff gibt eine erfrischend kecke, letztlich aber auch reichlich abgezockte Jenny. Almuth Herbst (Begbick), Petra Schmidt (Fatty) und Urban Malmberg (Moses) geben ein solides Gangster-Trio. Tobias Glagau (Jakob), Petro Ostapenko (Heinrich) und Joachim Maaß (Jo) singen die zunächst munteren, doch tragisch endenden Glücksritter an Pauls Seite.
Thomas Rimes erweckt unterdessen die fast 90 Jahre alte Partitur mit ihren vielen Jazz- und Foxtrott-Elementen zu neuem Leben. Weills Musik ist emotional weitaus weniger distanziert als das Brechtsche Libretto. Der Komponist gönnt seinem Publikum sogar ein paar ausgesprochene Ohrwürmer wie die Gassenhauer „O Moon of Alabama“ oder „Wie man sich bettet, so liegt man“. Doch auch musikalisch finden sich Verfremdungseffekte wie harmonische Schärfungen, die bis heute sehr wirksam geblieben sind.
„Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ | R: Jan Peter | 14., 20.4., 4.5. je 19.30 Uhr | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Seele geraubt
„Hello Dolly“ am Gelsenkirchener MiR – Musical in NRW 04/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Neues Publikum
Land NRW verstetigt das Förderprogramm Neue Wege – Theater in NRW 11/23
Fiasko in forschem Ton
„König für einen Tag“ in Gelsenkirchen – Oper in NRW 07/23
Eisige Herrschaft
„Bernarda Albas Haus“ am MiR in Gelsenkirchen – Oper in NRW 04/23
Das Meer spiegelt die Gefühle
„Billy Budd“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen – Oper in NRW 03/23
Neues Spielfeld für Musiktheater
Spark-Festival geht in Köln an den Start – Festival 04/22
Morbider Mozart-Mythos
Choreographen-Duo interpretiert die Totenmesse – Tanz an der Ruhr 01/22
Fantastische Bilderwelten
„Big Fish“ im Gelsenkirchener MiR – Musical in NRW 05/19
Es stinkt im Dorf
Bizets „Perlenfischer“ als packendes Sozialdrama – Oper in NRW 02/19
Der Prediger als Opferlamm
Leonard Bernsteins „Mass“ in Gelsenkirchen – Oper in NRW 12/18
Ein König von Sinnen
Verdis „Nabucco“ in Gelsenkirchen – Oper in NRW 09/18
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Interview 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24
Der unfassbare Gott
Oper Bonn zeigt Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ – Oper in NRW 12/23
Unheimlich ungelebte Geschichte
„Septembersonate“ an der Rheinoper Düsseldorf – Oper in NRW 11/23