So viel Trubel gibt es selten vor einer Aufführung: Da wird begrüßt und geplaudert, gelacht und umarmt. Der Chor stimmt die ersten Akkorde an, das Orchester stimmt die Instrumente - und bevor es das Publikum verstanden hat, ist die Inszenierung bereits im vollen Gang.
Das Gelsenkirchener Musiktheater hat sich zum 100. Geburtstag Leonard Bernsteins ein ganz besonderes, extrem selten zu sehendes Werk vorgenommen: „Mass“, also eine katholische Messe, die in dieser Form alle Genregrenzen sprengt: Sie ist ein wenig Oratorium, ein wenig Musical, trägt viele opernhafte Züge und hat jede Menge Tanzeinlagen. Und sogar die Grenzen zwischen Aufführenden und Publikum werden gesprengt. Wie der „Straßenchor“, der zunächst die erste Reihe im Parkett belegt, sollen auch die Zuschauer sich als Teil der Gemeinde fühlen. Das funktioniert ganz gut, ist aber nichts für schwache Nerven.
„Aufwühlend“ trifft wohl am ehesten die Wirkung, die das knapp zwei Stunden dauernde Stück entfaltet. Zumindest wer in den vorderen Reihen sitzt, kann sich der aufgekratzten Chorgemeinde kaum entziehen. Aber auch von der Bühne direkt geht eine ungemeine Sogwirkung aus. Das liegt am hohen Tempo, das Bernstein zunächst musikalisch und dramaturgisch vorlegt, aber auch an der faszinierenden Choreographie der rund 180 Aufführenden (Inszenierung und Choreografien: Richard Siegal): Da kommt eine Blaskapelle in den Saal marschiert, auf den oberen Rängen singt mal der Kirchenchor, spielen mal einzelne Bläser, während sich „Straßenchor“, Knabenchor (der Chorakademie Dortmund) und Tänzer mit dem einzigen konsequenten Solisten, dem Priester (Celebrant), sehr dynamisch die Bühne teilen. Henrik Wager spielt und singt den Prediger mit viel Charisma. Auch aus dem Straßenchor, der quasi aus dem gesamten Opernensemble besteht, treten immer wieder Solisten hervor. Sie setzten dem Prediger mit ihren Zweifeln am Glauben so lange zu, bis er zum Opferlamm ihres wütenden Mobs wird. Musikalisch ist dieses „Chaos“ so verdichtet, dass es einen geradezu zwangsläufig überwältigt. (Dirigat: Rasmus Bauman). Aber es gibt Hoffnung, dass nach dem Zusammenbruch etwas Neues entsteht. Ein Knabensopran stimmt den „Simple Song“ zum gemeinsamen Neubeginn an.
„Für mich“, erklärte Bernstein einst selber, „ist der Celebrant das Element in jedem Menschen, ohne das wir nicht leben können, ohne das wir nicht von einem Tag zum nächsten kommen, nicht einen Fuß vor den nächsten setzen können. Er repräsentiert die Eigenschaft, die uns weiterleben lässt. Ich denke, das kann teils mit dem Wort ´Glauben`, teils mit ´Hoffnung`, teils mit ´Vorausschau` beschrieben werden. Am Ende muss jeder sehr tief in sich selbst blicken, um genau das zu finden, das er zerstört hat.“
Uraufgeführt wurde „Mass“ 1971 zur Eröffnung des „John F. Kennedy Centers for the Performing Arts“ in Washington – als Auftragswerk der Witwe Jacqueline Kennedy. Bernstein hatte mehrere Jahre mit der Komposition verbracht – in den bewegten Zeiten von Vietnamkrieg, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung. Im Stück spiegelt sich das durchaus wider und sorgte seinerzeit für öffentliche Kontroversen. Formal hingegen ist die alte, damals noch gültige, katholische Liturgie bestimmend. Damit wollte der Komponist Kennedy als ersten katholischen US-Präsidenten ehren. Kennedys Amtsnachfolger Richard Nixon sah wohl beides als Affront und blieb der Uraufführung fern.
„Mass“ | R: Richard Siegal | 9.12., 13., 20.1. 18 Uhr, 16.2. 19.30 Uhr | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
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