Die Vorfreude unter den Musical-Liebhabern war groß: Gleich drei stehen in dieser Spielzeit auf dem Programm. Doch die Freude wich schnell der Ernüchterung: Das zwischen griechischer Tragödie und Rokoko-Komödieangesiedelte „Triumph der Liebe“ von Jeffrey Stock (Musik), Susan Birkenhead (Liedtexte) und James Magruder (Buch) erwies sich als künstlerisches Missverständnis. Und das als Rockoper angekündigte „Last Paradise Lost“ (Musik: Vanden Plas) glitt immer mehr in ein biblisches Erbauungs-Oratorium ab – und dürfte wohl nur eingefleischte Fans der Progressive-Metal-Band ins Theater locken.
Zum Glück rettet der Broadway-Klassiker „Der Mann von La Mancha“ die Ehre des Genres. Vor allem, weil Regisseur Philipp Kochheim das auf dem Roman „Don Quijote“ von Miguel de Cervantes (1547–1616) beruhende Musical von Mitch Leigh (Musik), Joe Darion (Liedtexte) und Dale Wassermann (Buch) völlig neu interpretiert: Zuerst einmal strich er die ausufernde Rahmenhandlung, dann verlegte er die in einem Verlies während der spanischen Inquisition spielende Kerngeschichte in die Halle einer psychiatrischen Anstalt Anfang des 20. Jahrhunderts. In der Mitte des Raumes, der von bis zur Decke reichenden Türen gesäumt ist, steht ein überdimensionierter Glaskasten, der an eine Museumsvitrine erinnert.
Nur sind darin keine Kunstgegenstände ausgestellt – die darin aufgebaute Wüstenlandschaft mit Holzpferd und -esel dient dem in mittelalterlichem Kostüm steckenden Don Quijote (Gregor Dalal) und seinem Patienten-Freund Sancho Panza (Mark Watson Williams) als gläsernes Gefängnis. Der Doktor (Youn-Seong Shim), wie alle Pfleger und Don Quijotes Familie in zeitgenössische schwarze Kostüme gekleidet, erinnert nicht von ungefähr an Sigmund Freud, und Aldonza (Nana Dzidziguri) ist in dieser Fassung mehr der Gouvernantentyp. Doch keinem gelingt es, DonQuijotevon seinen sinnlosen Kämpfen gegen imaginäre Feinde abzuhalten, um die Welt zu retten. Doch er träumt weiter, bis in den Tod hinein, seinen „unmöglichen Traum“.
Schon die Interpretation des Showstoppers „The Impossible Dream“ durch den weichen Bariton Gregor Dalal ist das Eintrittsgeld wert. Zumal sich Kochheim dazu entschieden hat, die Songs im Original (mit deutschen Übertiteln) zu belassen. So ist diese Inszenierung ein wahrer Ohrenschmaus, den auch Nana Dzidziguri mit ihrem klaren Mezzosopran bedient. Auch Gregor Dalal glänzt, besonders im Zusammenspiel mit Mark Watson Williams; die beiden erinnern an manchen Stellen an die Komikerpaare der Stummfilmzeit, dann wieder führen sie sich auf wie die weisesten Verrückten. Auch Youn-Seong Shim überzeugt mit charismatischem Spiel und ausdrucksstarkem Tenor.
Der „Star“ des Abends aber ist zweifellos die Inszenierung, der Kochheim schon durch die kluge Kürzung der eher epischen Geschichte auf knapp 90 Minuten eine Verve verleiht, die immer die Spannung hochhält. Auf visueller Ebene wird das Publikum durch Uta Finks fantasievoll entworfenes Bühnenbild verwöhnt, das schon surreale Qualitäten hat, mit intelligenten Anleihen beim Expressionismus des deutschen Stummfilms der 1920er Jahre. Die gleiche Ausdruckskraft gilt für ihre Kostüme, die trotz des vorherrschenden Schwarz nie eintönig wirken. So verlässt man mitgerissen von der Musik und berührt von der Geschichte unterhalten wie nachdenklich gestimmt das Theater.
Der Mann von La Mancha | R: Philipp Kochheim | weitere Termine in Planung | Theater Münster | www.theater-muenster.com
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