Die Zeit der digitalen Speichermedien ist vorbei. Aus. Schluss. Der blinde Hamm hockt an einem Schreibtisch, hämmert gelegentlich auf eine Schreibmaschine ein. Ansonsten redet er fast pausenlos, während sein Kumpel Clov Akten durchstöbert. Die beiden hocken in einem chaotischen Raum voller Kartons, Zeitungen, Papierbündel und lassen sich nicht unterkriegen – was man mit dem Stücktitel „Endspiel/Einstürzende Archive“ auf die Katastrophe des Historischen Stadtarchivs beziehen kann.
Grundlage des Abends ist Samuel Becketts Stück „Endspiel“, das die Zeit nach der Apokalypse beschreibt, egal ob sie nun Natur, Technik, Staat oder Gesellschaft erfasst hat – was bleibt, ist: Weitermachen. Regisseur Patrick Reichert-Young verknüpft das Stück mit einer Film-Installation von Florian Baar, in der eine Gruppe von Studenten vom Ausbruch einer Virusepidemie überrascht wird, die die Erinnerung angreift und infolgedessen Medien wie Computer und Handys abgeschaltet werden. Ängste, Überlebenswillen, Stigmatisierung greifen um sich. Die Gruppe landet bei einer Expedition in einem Saal Kontaminierter, bunkert sich schließlich ein und denkt über bewahrenswerte Erinnerungen nach. Natürlich sind das primär die, die die eigene Identität gewährleisten.
Wie sich diese beiden Szenarien verknüpfen, bleibt allerdings etwas unscharf: Geht es um Skepsis gegenüber der Abhängigkeit von digitalen Speichermedien, um Kritik an der analogen Archivpraxis oder eher um ein Plädoyer für mehr kollektive und individuelle Erinnerung? Der Abend stellt beide Katastrophenszenarien eher nebeneinander, ohne sie direkt zu verknüpfen. Die jungen Darsteller der „theatergruppe köln“ der Jungen Theatergemeinde spielen sich mutig durch Becketts schweren Text. Jonas Nicola Drouvé ist ein nörgelnd-fordernder Hamm, dessen Dauer-Reden immer auch die Versicherung der eigenen Existenz bedeutet. Valentin Schwerdtfeger als Clov wuselt dagegen als selbstbewusstes Faktotum hin und her, ohne je unterwürfig zu sein. Marie Neuhalfen und Müjdat Yüksel als Nagg und Nell ergänzen das Duo. Nicht immer sind die jungen Schauspieler den Ansprüchen des Textes gewachsen, gelegentlich fehlt es an darstellerischen Farben, doch insgesamt schlägt sich die Truppe wacker und macht neugierig auf mehr.
„Endspiel/Einstürzende Archive“ von Samuel Beckett/Ensemble | R: Patrick Reichert-Young | Freies Werkstatt Theater | keine weiteren Termine | www.fwt-koeln.de
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