Es ist ein fast ausschließlich weibliches Publikum, das sich an diesem Mittwochabend im Kinosaal 1 des Odeon Kinos zusammengefunden hat. „Momentan sitzen ungefähr 130 Menschen in diesem Saal, nur vier davon sind Männer“, sagt Jürgen Lütz, Geschäftsführer des Odeons, zu Beginn des Films. „Diese Info lasse ich jetzt einfach mal so stehen.“ Danach wird es dunkel im Saal und der Vorhang öffnet sich für „Me Time“.
„Me-time“, dieser aus dem Englischen übernommene Ausdruck, meint die Zeit, die wir uns ganz bewusst für uns selbst nehmen. Zeit, in der niemand etwas von uns will, in der wir nicht die Bedürfnisse anderer Menschen befriedigen müssen. In Ayla Yildiz Dokumentation steht der Begriff für die bewusste Entscheidung dagegen, Kinder zu bekommen: In ihrem Film sprechen sechs Protagonist:innen darüber, warum sie keine eigene Kinder wollen – oder es bereuen, welche bekommen zu haben. Nur einer von ihnen – Lito, 33 – ist ein Mann, alle anderen sind, wie auch an diesem Abend im Kinosaal, Frauen.
Eine von ihnen, Judith, hat sich noch vor ihrem 35. Geburtstag sterilisieren lassen. Eine Entscheidung, die sie vehement vor Ärzt:innen verteidigen musste, denn viele Mediziner:innen führen bei Frauen erst ab diesem Alter eine Sterilisation durch. Eine andere Protagonistin hat einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich und eine wurde ungewollt schwanger. Am meisten jedoch sticht die Geschichte von Pia, ebenfalls Mitte 30, heraus: Sie hat einen zweijährigen Sohn – und bereut es, Mutter geworden zu sein. Im englischsprachigen Raum hat dieses Thema unter dem Begriff „regretting motherhood“ (übersetzt: „Mutterschaft bereuen“) bereits einige Aufmerksamkeit erfahren. In Deutschland jedoch ist „Me Time“ der erste Dokumentarfilm, der offen über dieses Thema spricht.
Protagonistin Pia ist daher die einzige der sechs, nach der Ayla Yildiz gezielt gesucht hat. Alle anderen Protagonist:innen kommen aus Yildiz Freundeskreis. „Ich wusste, dass das Thema ‚regretting motherhood‘ unbedingt Teil des Films werden musste“, sagt die Regisseurin im Anschluss an die Vorführung im Interview mit Jürgen Lütz. „Deswegen habe ich über die sozialen Medien eine Mutter gesucht, die bereit war, über dieses Thema zu sprechen.“ Generell solle der Film Mut machen, ehrlich über das Eltern- und vor allem Muttersein zu sprechen und es von dem Podest holen, auf das es unsere Gesellschaft bisher gestellt hat.
Dementsprechend geht es in „Me Time“ vor allem darum, welche Vorteile ein Leben ohne Kinder mit sich bringt – weg von einem defizitären „kinderlos“ hin zu einem positiven „kinderfrei“. Dass Yildiz mit ihrem ersten eigenen Kinofilm ein bisher vernachlässigtes Thema auf die große Leinwand holt, zeigt die positive Resonanz an diesem Abend. Während des Interviews im Anschluss an den Film melden sich mehrere Frauen mit emotionalen Wortbeiträgen und bedanken sich bei der Regisseurin. Auch Jürgen Lütz vom Odeon Kino ist überzeugt, dass der Film noch mehr Aufmerksamkeit verdient hat: „Bisher waren die Kinosäle immer voll, vor allem auch mit jungen Menschen.“ Bald soll „Me Time“ deshalb nochmal eine Art offiziellen Pressestart bekommen, nachdem Yildiz seit letztem Mai ihren Film in bisher 23 Städten vorgestellt hat.
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