In Köln-Humboldt/Gremberg findet eine Vernissage der besonderen Art statt: Eine Traube Menschen hat sich in freudiger Erwartung vor einem Kunstwerk versammelt – aber nicht etwa in einem Museum, sondern vor einer Litfaßsäule, dort, wo die Wattstraße auf die Taunusstraße trifft. „Kunst an Kölner Litfaßsäulen“ nennt sich das Projekt, das nach dreieinhalb Jahren Probelaufzeit nun offiziell bis 2029 weitergeführt wird. Vertreter des städtischen Kulturamts, der Kunsthochschule für Medien und der Firma Ströer sowie Künstler erzählten über das „Open Air Museum“ und die organisatorische Odyssee, die es ermöglichte.
2015, ausgerechnet zum 160. Jubiläum der Litfaßsäule verkündete der Kölner Stadtrat, dass sie die Anzahl der Litfaßsäulen im Kölner Raum von über 800 auf 500 reduzieren wollen. Im digitalen Zeitalter klingt das nach dem Anfang vom Ende für die analogen Werbezylinder. Als fester Bestandteil des Stadtbildes und eines der Hauptwerbemittel für Kulturveranstaltungen käme eine solche Dezimierung einem schweren Einschnitt in die Kölner Kulturlandschaft gleich. Deswegen wurden mit einer Plakataktionen von Absolventen der KHM aus einigen der ungenutzten Litfaßsäulen sogenannte Kunstsäulen, die statt Werbung Kunstprojekte im öffentlichen Raum ausstellten – aus den Trägern von Werbung für Kunst sind also Träger von Kunst selbst geworden.
Ein Jahr später im Dezember 2016 wurde die Abbauverpflichtung nichtsdestotrotz von der Firma Ströer vereinzelt umgesetzt. Ströer ersetzte - dem Werbenutzungsvertrag entsprechend - an vielen Stellen die traditionellen Litfaßsäulen durch hinterleuchtete Plexiglassäulen, die jedoch statt kleinformatiger Kulturwerbung vor allem großflächige kommerzielle Werbung zeigen. Es dauerte nicht lang, bis Stimmen laut wurden, die den Erhalt der Kunstsäulen forderten. Das Netzwerk Art Initiatives Cologne startete zu diesem Zweck eine Petition. Es brauchte langwierige Vertragsverhandlungen zwischen Ströer, der Stadt Köln und den Stadtwerken, den vollen Einsatz diverser Ämter, Gremien und Kulturschaffender, über drei Jahre Probezeit und eine Petition bis alle „formal-juristischen Bedenken“ aus dem Weg geräumt waren. Jetzt ist es offiziell: Immerhin 25 der zum Abriss verurteilten Litfaßsäulen werden gerettet und bleiben bis 2029 als Kunstsäulen erhalten.
Auf dem Pressegespräch am 26. März sind alle Beteiligten sichtlich stolz und froh über den Fortbestand des Projekts. Denn es stellt nicht nur einen großen Gewinn für die Kölner Kunstlandschaft dar, Köln ist auch die erste Stadt, die überhaupt ein so langfristiges Kunstsäulen-Projekt verwirklicht. Hermann Meyersick, Geschäftsführer von Ströer, macht die Dimensionen der Freiluft-Ausstellung im öffentlichen Raum deutlich: Laut Statistiken werde ein Motiv auf diese Weise täglich im Schnitt eine halbe Millionen Mal gesehen – Zahlen, die kein Museum je erreichen könnte. Und da Litfaßsäulen als einziges Werbemittel auch in Wohngebieten erlaubt sind, sei das eine Möglichkeit, Kunst dorthin zu bringen, wo die Menschen leben.
Heike Ander, Referentin für Ausstellungen und Kooperationsprojekte der KHM, betont, dass die Litfaßsäule zwar ein auf den ersten Blick unattraktives, unbewegliches und immer gleiches Trägermedium darstelle, bei Künstlern aber dennoch großen Anklang fände.
Vielfache künstlerische Möglichkeiten werden bereits bei einem kurzen Blick auf die Motive der Probezeit seit 2015 deutlich. So ermutigte zum Beispiel Christian Sievers mit „Wir haben keine Angst – Hop 3“ Passanten dazu, sich durch den Anruf einer bestimmten Telefonnummer wissentlich auf den Radar der NSA zu begeben und Simon Menner gab mit „Aus einem Verkleidungsseminar für Stasi-Agenten“ einstige Überwacher den Augen der Öffentlichkeit preis. Bis zuletzt hinterließ Rozbeh Asmani „Colormarks“ auf den Kunstsäulen: eckige, voneinander abgegrenzte Farbflächen, deren Töne von Unternehmen patentrechtlich geschützt wurden.
Das aktuelle Kunstmotiv mit dem Titel „Opa 1 + 2“ wurde von Philipp Hamann kreiert, der 2011 an der KHM sein Diplom erhielt. Er ist gleich doppelt guter Laune, denn er steht nicht nur vor einer der mehrere Meter hohen Säulen, auf denen seine „Legebilder“ zu sehen sind, er könnte auch jeden Moment Vater werden und man kann nicht anders als sich über beides mit ihm zu freuen.
„Meinen Großvater, den habe ich nie kennengelernt“, sagt er. „Als mein Vater 20 war, ist er an Krebs gestorben und dann wurde alles, was er hatte, auf den Dachboden gebracht, wie eine Zeitkapsel. Wir Enkel sind als Kinder dann immer darauf und haben alles durchwühlt.“ Diesen Nachlass seines Großvaters – unter anderem Fotos, Werkzeuge, Kleidung, Orden – hat Hamann nun als Collage arrangiert, die an mehreren Plätzen in Köln ausgestellt wird. Dort, wo Passanten oberflächliche Werbung erwarten, erhalten sie nun einen Einblick in das Leben eines Fremden – Intimität im öffentlichen Raum.
Man darf gespannt sein, was für Motive die nächsten zehn Jahre noch bringen werden. Die Auswahl trifft dabei eine Jury, die aus Personen besteht, die am Projekt beteiligt waren oder bereits ein Motiv beigesteuert haben. Dabei sind Bewerbungen aus aller Welt zulässig, zunächst soll aber Kölner Künstlern der Vorrang gegeben werden.
Info: www.stadt-koeln.de/kunstsäulen
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