Wer durch Instagram oder Tiktok scrollt, sieht Frauen mit Sanduhr-Figuren, flachen Bäuchen und aufgespritzten Lippen, Schmink-Tutorials und Männer mit definierten, haarlosen Oberkörpern.
Daneben feiern Frauen (es sind tatsächlich vor allem Frauen) ihre Dehnungsstreifen als Tiger-Stripes und zeigen, wie sehr sie ihre vermeintlich unperfekten Körper lieben. Für die Gegenbewegung zum Perfektionswahn gibt es auch einen Hashtag-tauglichen Begriff: „Body Positivity“. Auch Kosmetik- und Dessous-Werbung zelebrieren hin und wieder Körpervielfalt. So zeigte die Kosmetikmarke Dove schon vor über zwanzig Jahren verschiedene Körperformen und Hautfarben auf Ihren Plakaten. Die Botschaft: Fat-Shaming ist out, bedingungslose Selbstliebe ist in. Doch wie hilfreich ist das?
Muss ich alles an mir schön finden?
Ihre Wurzeln hat die Body Positivity-Bewegung in den USA der 70er Jahre, im Mainstream angekommen ist sie jedoch erst in den 2010er Jahren mit dem Boom der sozialen Netzwerke. Immer öfter liefen sogenannte kurvige Models über die Laufstege, 2016 entwickelte Mattel eine Barbie-Linie mit Barbie im Rollstuhl, mit Beinprothese oder Pigmentstörungen. Tatsächlich war dies heilsam in einer Zeit, in der einseitige Schönheitsideale in den Vordergrund rückten, befeuert durch Selbstdarstellungen in sozialen Medien. Persönlichkeiten wie Kim Kardashian oder Jennifer Lopez, sowie kleine und große Influencerinnen und Influencer machten vor, was schön ist.
Doch auch bei Body Positivity liegt der Fokus darauf, sich „schön“ zu finden. Aber was, wenn Mann oder Frau genau das nicht schafft? Was, wenn ich meine Akne oder mein Hüftpolster einfach nicht mag? Kann ich nur glücklich sein, wenn ich alles an meinem Körper ästhetisch finde? Der Weg vom Selbsthass zur bedingungslosen Zuneigung zum eigenen Körper ist weit.
Mittlerweile gibt es mit „Body Neutrality“ ein alternatives Konzept. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, mit einer neutralen Einstellung zum eigenen Körper die Zufriedenheit vom Erscheinungsbild zu entkoppeln. Wertschätzung gebühre dem Körper nicht wegen Äußerlichkeiten, sondern dafür, was er täglich für uns leistet. Den Begriff prägte 2015 die US-Amerikanerin Melissa Fabello in einem Beitrag im Online-Magazin ravishly. Sie beschreibt es als unfaire Erwartung, dass jeder Mensch im Hinblick auf seinen Körper nur so vor Selbstbewusstsein strotzen könne.
Von der Lüge, sich zu lieben
Die Influenzerin eviewhy schreibt in einem mit melancholischer Musik untermaltem Video auf Instagram: „Ich bin müde, vom Versuch, meinen Körper zu lieben (…), ich bin müde davon, mich als Lügnerin zu fühlen, vormachend, dass mein Körper schön ist (…). Ich möchte meinen Körper nicht lieben, nicht hassen, ich möchte, dass er einfach da ist.“ Ist das also die Lösung? Sind wir so unabhängig von Bestätigung, können auch Alterungsprozessen unseres Körpers entspannt entgegensehen – zumindest, solange wir einigermaßen gesund sind?
Der Ansatz der Body Neutrality mag für viele Menschen in individuellen Lebenssituationen sehr hilfreich sein. Doch es gibt eine zweite Ebene: Auch, wenn der oder die Einzelne es schafft, dem eigenen Körper in friedfertiger Akzeptanz neutral gegenüberzustehen – bei der Job- oder Wohnungssuche gibt es strukturelle Diskriminierung von körperlich eingeschränkten oder non-konformen Menschen, es gibt Mobbing in der Schule, am Arbeitsplatz, im Alltag und nicht zuletzt online. Hier hat die Body Positivity-Bewegung, die sich für die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe marginalisierter Körper einsetzt, die stärkere Botschaft.
UNHEIMLICH SCHÖN - Aktiv im Thema
aes.ch/sportsucht | Die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen (AES) klärt über Sportsucht auf.
sporthilfe.de/socialmedia/studienergebnisse | Die Deutsche Sporthilfe befragte Leistungssportler, welche Rolle soziale Medien für ihren Sport spielen.
sportschau.de/mehr-sport/bodybuilding-social-media-100.html | Kritisches Video über den Einfluss von Bodybuilding-Influencern auf junge Menschen.
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