Ein klassisches Horror-Märchen-Szenario: Kleines Mädchen, böse Großmutter, altes Schloss! Dazwischen ein verweichlichter, versoffener Opa, der nicht einschreitet. Constance lebt in ständiger Anspannung – psychischer und physischer Missbrauch sind in diesem Landsitz an der Tagesordnung. Der Franzose Matthias Lehmann erzählt seine Geschichte in „Die Favoritin“ in einem merkwürdigen Tonfall zwischen Funny und Gruselgeschichte, und auch die kontrastreichen Schwarz-weiß-Zeichnungen spiegeln diesen irritierenden, aber nicht uninteressanten Spagat (Carlsen). Ganz stille Töne schlägt der Belgier Ben Gijsemans an: „Hubert“ geht gerne ins Museum, betrachtet lange seine Lieblingsbilder – vor allem die Frauenporträts. Zuhause kopiert er sie von Bildern aus dem Internet. Den echten Frauen – der Dame aus dem Erdgeschoss, der Frau von gegenüber – geht der schüchterne Junggeselle jedoch aus dem Weg. Gijsemans schildert den in seiner Isolation gefangenen Protagonisten mit feiner Akribie und scheint sich mitunter auch in seinem leisen Ästhetizismus zu verlieren. Die Bilder sind aber tatsächlich von ausgesuchter Schönheit, der ein längeres Format als 86 Seiten auch gut täte (Jacoby & Stuart).
Zunächst wähnt man sich mit „Rein in die Fluten!“ von David Prudhomme und Pascal Rabaté in einer etwas beliebigen Abwandlung von Tatis „Die Ferien des Monsieur Hulot“ in Comicform. Aber beim Lesen fällt zunehmend auf, wie raffiniert dieser Bilderreigen komponiert ist. Vergleichbar mit einem Film, der in einer einzigen Plansequenz gedreht ist, hangelt sich die Geschichte von Protagonist zu Protagonist, werden Hintergründe zu Vordergründen, die wiederum an Ereignisse am Seitenrand weitergereicht werden. Und auch zurückliegende Momente und Figuren tauchen hier und da an anderer Stelle wieder auf. Das ist nicht nur virtuos, sondern macht zunehmend großen Spaß (Reprodukt).
Mit „Post aus dem Jenseits“ hat Éric Liberge einen Prolog zu seinem fantastischen Vierbänder „Monsieur Mardi-Gras – Unter Knochen“ verfasst. Hier wird auf 150 großformatigen Seiten erzählt, wie dieses merkwürdige Totenreich mit lebenden Skeletten entstehen und sich zu einem Ort für Geheimbünde und geheimnisvolle Elixiere, aber auch Besäufnisse und Schlägereien entwickeln konnte. Liberge besticht ebenso durch Humor wie durch philosophische Gedanken. Und nicht zuletzt begeistert er mit seinen großartigen, unglaublich detailreichen Schwarz-weiß-Zeichnungen (Splitter). Das Werk des als Student nach Belgien gegangenen deutschen Comic-Künstlers Andreas wird derzeit vom Verlag Schreiber & Leser auf Deutsch veröffentlicht. Mit dem zweiten Band wird die Gesamtausgabe der Serie „Rork“ um einen mysteriösen Reisenden, der allerlei übernatürliche Abenteuer zu bewältigen hat, abgeschlossen. Die Story ist verwirrend, die fantastischen Zeichnungen und experimentierfreudigen Seitenaufteilungen zeugen von den Vorbildern Frank Miller, Moebius und Philippe Druillet. Andreas' Linie wird zunehmend weicher und bereitet sowohl ästhetisch als auch inhaltlich die Folgeserie „Capricorn“, an der er bis 2011 fünfzehn Jahre lang gearbeitet hat, vor. In der langlebigen Serie um einen vor allem kriminalistisch interessierten Astrologen, der sich im New York der 30er Jahre mit der Unterwelt anlegt, geht es actionreicher und leichter zu. Der erste von sieben geplanten Bänden einer Gesamtausgabe ist gerade erschienen (Schreiber & Leser).
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