Die Frau, die singt
Kanada, Frankreich 2010, Laufzeit: 130 Min., FSK 12
Regie: Denis Villeneuve
Darsteller: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz
>> www.arsenalfilm.de/die-frau-die-singt/index.htm
Eine menschliche Tragödie
Eins werden
"Die Frau die singt" von Denis Villeneuve
Ihr Verhältnis war wohl angespannt: Bei der Testamentsverkündung ist Sohn Simon nur wenig berührt. Er ist im Gegenteil deutlich genervt, dass die Skurrilitäten seiner Mutter auch nach ihrem Tod eine Fortsetzung haben. Seine Zwillingsschwester Jeanne hingegen ist vor allem irritiert. Denn ihre Mutter wünscht sich nackt, ohne Sarg und mit dem Gesicht nach unten begraben zu werden. Das ist ihre Art, einer verrückten Welt den Rücken zu kehren. Denn Nawal blickte auf eine traumatische Vergangenheit im libanesischen Bürger krieg hinter sich, als sie mit ihren gerade geborenen Kindern nach Kanada auswanderte. Mit ihrem letzten Willen wünscht sich Nawal jetzt, dass die nun erwachsenen Kinder dieser Vergangenheit nachspüren, um ihren Seelenzustand zu verstehen und dabei vielleicht auch etwas zu lernen – über ihr Leben, über das Leben. Sie sollen sich auf die Suche nach ihrem Vater und ihrem Bruder machen. Das wiederum verwirrt nicht nur Jeanne, sondern auch Simon zu tiefst. Denn ihren Vater hielten sie für tot, von einem Bruder wussten sie nichts. Während sich Simon dem Wunsch der Mutter zunächst verweigert, macht sich Jeanne auf, im Heimatland ihrer Mutter die Verwandtschaft zu suchen.
Mantel des Schweigens
Die Kamera begleitet Jeanne, die sich auf den Spuren ihrer Mutter durch das Land bewegt. Parallel dazu erzählt der Film aus dem Leben der Mutter. Der filmische Rückblick auf ihre Erlebnisse greift zum Teil vor, teils ist er die nachträgliche Visualisierung von Jeannes Detektivarbeit. Und mitunter weicht die in Rückblenden eingestreute Vergangenheit auch von den Erinnerungen und Berichten, die Jeanne sammelt, ab. Erinnerung – es gibt immer verschiedene Versionen davon. Bei einer solchen Spurensuche muss man unwillkürlich an Ari Folmans dokumentarischen Zeichentrickfilm „Waltz with Bashir“ von 2008 denken, in dem der Regisseur ebenfalls in der traumatischen Vergangenheit des Libanons stochert – dem Massaker der Phalang-Milizen in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, das er als israelischer Soldat miterlebte. Sieben Jahre zuvor hatte der Bürgerkrieg zwischen den christlichen Phalange-Milizen und den libanesisch-muslimischen Milizen das westlich orientierte Land, das man ob seiner Liberalität auch die „Schweiz des Orients“ nannte, in einen 15-jährigen Bürgerkrieg gestürzt, der bis heute seine Spuren hinterlässt. Geredet wird nicht gerne darüber – weder in „Waltz with Bashir“ noch in „Die Frau die singt“. Und wenn doch einzelne Augenzeugen erzählen, was in diesen Jahren geschehen ist, dann erzählen sie durchaus unterschiedliche Geschichten. Die Parallelmontage von Nawals Vergangenheit mit den von Jeanne aufgespürten Bruchstücken von Erinnerung an diese Vergangenheit erzählt viel von dieser Differenz. Das Leid aber bleibt offensichtlich – ob in den drastischen Bildern der Rückblenden oder im Hinblick auf Jeannes Gesprächspartner, die oft verstummen und sich abwenden, manchmal aber auch aufbrausend werden, sobald sie an der Vergangenheit rührt. Auch in dem autobiografischem Film des Israelis Folman ist das Erinnern ein schwieriger und widersprüchlicher Akt. Wo „Waltz with Bashir“ notwendigerweise sehr auf die Rolle Israels in dem Konflikt abzielt, kommt der Konflikt mit Israel in „Die Frau die singt“ nicht vor. Für einen Film, der zu großen Teilen im libanesischen Bürgerkrieg angesiedelt ist, ist das eine sehr ungewöhnliche Aussparung, die dem Film gut tut und letztlich dazu führt, dass er eine allgemeingültigere Ebene erlangt und die Diskussionen sich nicht sogleich in den üblichen Grabenkämpfen des Nahostkonflikts verlieren.
Die Gewaltspirale durchbrechen
Denis Villeneuve verfilmt mit seinem für den Auslands-Oscar 2011 nominierten Spielfilm ein Theaterstück von Wajdi Mouawad. Der gebürtige Libanese und Landsmann von Villeneuve ist ein hochgelobter Dramaturg, dessen Stücke und Romane schon in viele Sprachen übersetzt wurden. „Incendies“ (dt. Verbrennungen) – so der Originaltitel von „Die Frau die singt“ – ist der zweite Teil einer Tetralogie, dessen ersten Teil, „Littoral“, Mouawad bereits im Jahr 2004 selbst verfilmt hat. Die Ausgangslage ist ähnlich: Ein Vater stirbt, und sein Tod führt den Sohn in dessen Heimatland – den Libanon. Die Dramaturgie von „Incendies“ ist jedoch um einiges wuchtiger. Das monströse Ende, das zunehmend die Ausmaße einer griechischen Tragödie annimmt, mag dem ein oder anderen Kinozuschauer zu dick aufgetragen, zu überkonstruiert sein. Verabschiedet man sich jedoch von der Position des Realismus, die der Film lange vorgibt einzunehmen, dann kann man in diesem Ende aber einen so schockierenden wie ergreifenden Gedanken lesen, der es in seiner Abstraktheit und Universalität vielleicht vermag, die ewige Gewaltspirale emotional zu durchbrechen,
Pssst!
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