Es ist bei weitem nicht das einzige Bistum, das durch den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche erschüttert wurde, aber in kaum einem anderen überschlugen sich derart die Ereignisse. Zuletzt hat die Kirche einen Bußgottesdienst abgehalten, wieder von Protesten begleitet. Die Messe fand am 18. November statt, dem „Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch“. Die Kirche wollte damit ein liturgisches Zeichen setzen, auch der Betroffenenbeirat war an der Vorbereitung beteiligt. Die Veranstaltung war allerdings nicht öffentlich, nur etwas mehr als 200 Personen waren nach Berichten des WDR eingeladen. Das Bistum begründete dies auf Anfrage mit dem Schutz der Betroffenen und verwies auf die Live-Übertragung im Internet.
Doch längst nicht alle Betroffenen hatten die Einladung angenommen. Das Bistum gab keine konkreten Zahlen bekannt, doch einige hatten zuvor bereits öffentlich darüber berichtet, dass sie den Brief als Zumutung, gar als Retraumatisierung empfanden. Während der Gottesdienst stattfand, protestierten andere draußen zusammen mit Aktivistinnen der Reforminitiative „Maria 2.0“ gegen Vertuschung und Machtmissbrauch. Die Aktivistinnen und ihre Verbündeten sahen in dem Gottesdienst eine „Nebelkerze“ und vermissten die eigentlich Verantwortlichen bei diesem Schuldeingeständnis, darunter auch Kardinal Rainer Maria Woelki, der sich zurzeit in einer geistlichen Auszeit befindet. Sein Umgang mit dem Missbrauchsskandal hat die Kölner Kirche in eine Glaubwürdigkeitskrise gestürzt, aus der sie bisher keinen Weg hinaus gefunden hat.
Hintergrund sind die erschreckenden Zahlen, die eine Studie aus dem Jahr 2018 zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche in Deutschland ans Licht brachten: 1.670 beschuldigte Priester, Diakone und Ordensleute, 3.677 mutmaßlich betroffene Kinder und Jugendliche. Davon 87 beschuldigte Priester und 135 Betroffene in Köln. Der Schock und die Empörung saßen tief. Kardinal Woelki gab bei einer Münchener Anwaltskanzlei ein Gutachten in Auftrag, weigerte sich aber dann, es zu veröffentlichen, angeblich wegen methodischer Mängel und äußerungsrechtlicher Bedenken. Die Pressekonferenz, bei der das Gutachten eigentlich vorgestellt werden sollte, wurde zwei Tage zuvor abgesagt – der erste in einer Reihe von Eklats, die die Frage aufwarfen, ob das Bistum überhaupt ein echtes Interesse an der Aufarbeitung verfolgt. So verließen einige Mitglieder des Betroffenenbeirats das Gremium aus Protest, nachdem sie zunächst zugestimmt hatten, das Gutachten unter Verschluss zu halten. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung berichteten Sie, sie seien unter Druck gesetzt und in die Irre geführt worden.
Dann geriet Woelki selbst ins Kreuzfeuer, als bekannt wurde, dass er einen befreundeten Priester nicht nach Rom gemeldet hatte, obwohl er von dessen Missbrauchstat wusste. Später wurde er entlastet, weil er nach damals geltendem Recht nicht dazu verpflichtet gewesen war. Die Betroffenen beruhigte das nicht. Richtiggehend bizarr wurde es, als sich der Kardinal in der Christmette bei den Gläubigen dafür entschuldigte, dass sie in den vorangegangenen Wochen Kritik an seiner Person hätten ertragen müssen.
Im Januar schien es zunächst, als käme Bewegung in die Situation: Betroffene und die Presse sollten das Gutachten doch noch einsehen können, wenn auch teils geschwärzt. Doch als sich die Journalistinnen und Journalisten weigerten, eine Verschwiegenheitserklärung zu unterzeichnen, wurde der Termin abgebrochen. Erst im Februar dieses Jahres räumte Kardinal Woelki erstmals Fehler in der Kommunikation ein. Und im März lag nun auch endlich das umkämpfte Gutachten zur Einsicht aus – nachdem der Kölner Strafrechtler Björn Gercke im Auftrag des Kardinals ein zweites Gutachten fertiggestellt und veröffentlicht hatte, in dem Kardinal Woelki vollständig entlastet wurde.
Patrick Bauer, der als Betroffener das Dokument einsehen konnte, sagte im Interview mit der Tagesschau, dass das zweite Gutachten einen sehr viel freundlicheren Ton gegenüber der Kirche anschlage als das erste. „Im Gutachten von Rechtsanwalt Björn Gercke wurde den Beschuldigten zugutegehalten, dass sie eventuell nicht über alle Normen Bescheid wussten, im Gutachten aus München wird ihnen genau das vorgeworfen“, erklärte er zum Beispiel die unterschiedlichen Ansätze. Die Münchener Staatsanwälte waren auch vor grundsätzlichen Fragen nicht zurückgeschreckt und hatten auf die systemischen Ursachen des Umgangs mit Missbrauch in der Kirche hingewiesen. Die Kirche sah eben darin methodische Mängel, weil den Juristen für solche Wertungen die fachliche Kompetenz fehle. Handlungsleitend sei daher das Gercke-Gutachten.
Darauf aufbauend versprach das Bistum in Folge weitere Aufarbeitung. Es stellte einen Acht-Punkte-Plan zum Umgang mit Missbrauch vor und begann – wie von der Deutschen Bischofskonferenz gefordert – mit der Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitungskommission. Doch vielen reicht das nicht: Termine beim Amtsgericht, um aus der Kirche auszutreten, sind in Köln so begehrt, dass sie kaum noch zu bekommen sind. Inzwischen sind es nicht nur die Betroffenen, die Konsequenzen fordern, sondern auch andere Gemeindemitglieder, führende Geistliche, Aktivistinnen und Aktivisten.
Maria Mesrian, Diplomtheologin und Mitglied bei Maria 2.0, hat wenig Hoffnung, dass die Kirche es in ihrer jetzigen Gestalt schafft, Gerechtigkeit für die Betroffenen herzustellen. Dazu sei es nicht genug, dass sie Ordnung in ihre Akten bringe. „Damit das System weniger schädlich ist, muss es in vielen Bereichen Veränderungen geben“, sagt Mesrian. Sie fordert, dass die Kirche als gesellschaftspolitische Institution auch nach demokratischen Prinzipien arbeitet – Gewaltenteilung, Rechtstaatlichkeit, Compliance. „Einfache Dinge, die wir als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewohnt sind. Das kann man verändern, ohne an die Glaubenswahrheiten gehen zu müssen.“ Stattdessen beobachte die Theologin, dass sich das System immer wieder versucht, sich selbst zu stabilisieren.
So sind auf die Pflichtverletzungen im Umgang mit Missbrauchsfällen von verantwortlichen Würdenträgern, die auch durch das Gercke-Gutachten aufgedeckt wurden, so gut wie keine personelle Konsequenzen gefolgt – und auch Kardinal Woelki blieb im Amt. Ob der nach seiner Auszeit einfach zum Status Quo zurückkehren kann, ist angesichts der Geschehnisse seit 2018 aber mehr als fraglich.
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