Die Wintersportsaison hat nicht nur eine Kunstschneedebatte, sondern auch eine Anekdote zum Stigma der Monatsblutung gebracht: Als die erfolgreiche Skirennläuferin Mikaela Shiffrin nach ihrem Sieg Ende Januar im ORF gefragt wurde, wie es ihr gehe, bezog sie sich auf ihre momentane Müdigkeit: „I’m kind of in an unfortunate time of my monthly cycle“ (etwa: „Ich bin in einer ziemlich ungünstigen Phase meines Monatszyklus“). So weit, so unspektakulär. Wie ungewöhnlich aber ihr offener Umgang mit der Menstruation ist, zeigte die unbeholfene Reaktion des Übersetzers, der konstruierte: „Es ist sehr anstrengend. Ich komme nicht einmal zum Radfahren, was ich jeden Monat mache.“ Von Shiffrins Aussage keine Spur mehr.
Die Mär vom Blut
Nicht nur im Profisport, der vom Alltag der meisten Menstruierenden weit entfernt ist, ist ein offener Umgang mit der Monatsblutung immer noch ungewöhnlich. Im Beruf wird sie eher versteckt, damit man nicht als weniger belastbar gilt. Für Jugendliche kann Sport- und Schwimmunterricht zur Tortur werden, wenn körperliche Veränderungen und Scham überspielt werden müssen. Während NGOs und öffentlich-rechtliche Kanäle immer wieder Social-Media-Projekte zur Entstigmatisierung ins Leben rufen, feministische Kunstschaffende seit 50 Jahren durch mit Kunstblut beschmierte Tampons zu provozieren versuchen und viele sich betont aufgeklärt geben, blickt die Stigmatisierung der Menstruation auf eine lange Geschichte zurück. Sie hat viel mit dem gesellschaftlichen Blick auf den weiblichen Körper zu tun, etwa mit der Mär vom unreinen Periodenblut, das gleich die ganze Frau unrein werden lässt. In Mitteleuropa hat nicht nur das Christentum, sondern auch die bürgerliche Aufklärung dazu beigetragen, dass die Menstruation und die angebliche (körperliche) Schwäche der Frau als Grund für eine Herabsetzung gegenüber dem Mann gesehen wird. Selbst der Tampon, der das Leben vieler Menstruierender erleichtert hat, trägt dazu bei, eine Auseinandersetzung mit dem Zyklusalltag zu vermeiden – was einem aufgeklärten, unbefangenen Umgang weiterhin entgegensteht. Dieses Paradox ist auch Sinnbild für unseren alltäglichen Umgang mit dem Zyklus.
Streit um Körper
Trotzdem ist Aufklärung der einzige Weg, Mystifizierung, Unbehagen, Vorurteilen oder sogar Ekel entgegenzutreten. Es gibt viel, über das öffentlich gesprochen werden muss: umfassende gesundheitliche und psychosoziale Information zur eigenen Menstruation ist immer noch nicht für alle erreichbar, was auch mit dem Status der Gynäkologie und dem männlichen Körper als Standard in der medizinischen Forschung zusammenhängt. Debatten zu kostenlosen Menstruationsartikeln in Schulen, Universitäten und öffentlichen Gebäuden oder der Möglichkeit, sich zusätzliche Urlaubstage für die Menstruation nehmen zu können, schwappen erst langsam aus Ländern wie Schottland oder Spanien nach Deutschland über. Auch das öffentliche Gespräch über Menstruation als etwas, das nicht nur Frauenkörper betrifft, befindet sich erst am Anfang. Die Körperlichkeit der Menstruation ist einerseits natürlich und selbstverständlich, andererseits haben an ihr Stigmata und Tabus ihren
Anstoß genommen. Die Debatten lenken den Blick auf diese Körperlichkeit und setzen so dort an, wo Aufklärung beginnen und erfolgreich sein sollte.
Meine Meinung zu diesem Thema
DER GESCHMACK VON BLUT - Aktiv im Thema
profamilia.de/angebote-vor-ort/nordrhein-westfalen/beratungsstelle-koeln-zentrum/sexualpaedagogikyouthwork | Profamilia bietet sexualpädagogische Beratung für Jugendliche, Eltern und Institutionen an.
andheri-hilfe.de/informieren/gesundheit-ermoeglichen/tabu-menstruation-in-indien | Die in Bonn ansässige NGO Andheri Hilfe erklärt, welche Folgen das Menstruations-Tabu in Indien für die Betroffenen hat.
zukunftsinstitut.de/artikel/zukunftsreport/menstruation-wird-mainstream | Der Beitrag des Zukunftinstituts wägt ab, ob in Fragen der Menstruation nun endlich aufgeklärte Zeiten anbrechen.
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Ist die Geschichte der Menstruation voller Missverständnisse? – Glosse
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