„Alle haben von solchen Vorgängen gewusst. Man dachte, das sei normal“, sagte die frühere Skiläuferin Nicola Werdenigg in einem Interview mit dem österreichischen „Standard“ vor einem Jahr. „Das“ – damit waren Voyeurismus, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung gemeint. Tatort: Der Skileistungssport der 1970er Jahre in Österreich, in dem Missbrauch in jeder Form an der Tagesordnung gewesen sein muss. Im März erschien dann Werdeniggs kleines Buch „Ski Macht Spiele“, das die Autorin Elfriede Jelinek zum Anlass für eine ihrer wuchtigen Textlawinen nimmt. Mit Wortspielen, Ambivalenzen und Überzeichnungen zertrümmert sie darin den verlogenen Wertekanon der Gegenwart, der in heilloser Tradition nur die „alte Leier“ der Geschlechterbeziehungen fortsetzt. Stefan Bachmann bringt „Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)“ am Schauspiel Köln zur Uraufführung.
Moralische Säulenheilige können ihren Kredit allerdings auch schnell wieder verspielen. Jan Neumann setzt am Bonner Theater Molières Stück „Der Menschenfeind“ in Szene, das der Übersetzer Hans Magnus Enzensberger in die Spätjahre der Bonner Republik verlegt hat. Molières Held Alceste verachtet die Heuchelei und das Geschwätz der Upperclass und der Politik. Zu seinem Unglück ist er unsterblich in Célimène verliebt, die gerade die Partys der Reichen, Schönen und Mächtigen mag. Doch Alceste verscherzt sich mit seiner Wahrheitsliebe nicht nur die Zuneigung des parkettsicheren Partygirls, auch der Politiker Oronte ist das moralinsaure Geschwätz schließlich leid und greift zu drastischen Gegenmaßnahmen.
Wertesysteme auf den Kopf zu stellen, mag in der Realität unmöglich sein, auf dem Theater ist es dagegen Pflicht. Die Gruppe Sächsische Schweiz macht in ihrem Stück „Das phänomenale System“ den Versuch, das Verhältnis von Arbeit, Produkten und Geld neu zu bestimmen. Geld wird dabei durch Energie ersetzt, die neue Währung heißt dementsprechend „Kilokalorien“. Wie immer bei Saskia Rudat und Ivo Schneider verbindet sich dabei politischer Ernst mit absurder Komik. Anders kommt man dem phänomenalen „Schweinesystem“ sowieso nicht bei.
„Schnee Weiß“ | R: Stefan Bachmann | 21.12.(UA) | Schauspiel Köln | 0221 221 28400
„Der Menschenfeind“ | R: Jan Neumann | 1., 6., 14.12. 19.30 Uhr | Orangerie | 0228 77 80 08
„Das phänomenale System“ | R: Sächsische Schweiz | 14.12.(P) 20 Uhr | Studiobühne | 0221 470 45 13
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24
Getanzter Privilegiencheck
Flies&Tales zeigen „Criminal Pleasure“ am Orangerie Theater – Prolog 09/24
Wege aus der Endzeitschleife
„Loop“ von Spiegelberg in der Orangerie – Theater am Rhein 04/24
Das Theater der Zukunft
„Loop“ am Orangerie Theater – Prolog 04/24
Flucht auf die Titanic
„Muttertier“ am Schauspiel Köln – Prolog 03/24
Lesarten des Körpers
„Blueprint“ in der Außenspielstätte der Tanzfaktur – Prolog 03/24
Parolen in Druckerschwärze
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Köln – Auftritt 03/24
Musik als Familienkitt
„Haus/Doma/Familie“ am OT – Theater am Rhein 03/24
„Es wird ein Kampf um Vormachtstellung propagiert“
Rafael Sanchez inszeniert „Die letzten Männer des Westens“ am Schauspiel Köln – Premiere 03/24
Falle der Manipulation
„Das politische Theater“ am OT – Theater am Rhein 02/24
Dunkle Faszination
Franz Kafkas „Der Prozess“ am Schauspiel Köln – Auftritt 02/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Diskussion ohne Ende
„216 Millionen“ am Schauspielhaus Bad Godesberg – Auftritt 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Die Erfindung der Wahrheit
NN Theater Köln mit „Peer Gynt“ im Friedenspark – Auftritt 09/24