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Illustration: Sven Siebenmorgen

Der Halbmond über dem Rhein

01. Oktober 2010

Der Islam ist für seine Kritiker eher Projektionsfläche als Religion - THEMA 10/10 ISLAM

Eine alternde männliche Krawallschachtel veröffentlichte im vergangenen Monat ein Pamphlet, und schon streitet die Republik über Integration und Migration. Die Möglichkeit, dass spezielle türkische oder gar arabische Desoxyribonukleinsäuren dafür verantwortlich seien, dass sich dieses Land abschafft, wird heftig in den Fernsehstudios der Bundeshauptstadt diskutiert. Dabei würde ein Blick in den Westen der Republik den Beteiligten guttun. Woche für Woche wächst der Rohbau der DITIB-Moschee in Ehrenfeld etwas mehr in den Himmel, ohne dass das Abendland nennenswerten Schaden nimmt.Die Aufregung während der Planungsphase, verbunden mit kleinen Demonstrationen gegen den Bau und Großdemonstrationen gegen die kleinen Demonstrationen, ist verflogen. Stattdessen schauen die Menschen aus der Nachbarschaft neugierig auf die futuristisch anmutende Betonkonstruktion. Tatsächlich entsprach schon der Plan der Kölner Architekten Gottfried und Paul Böhm nicht dem Bild einer im Mittelalter gefangenen Weltreligion, sondern überzeugte mit der freundlichen Offenheit des Gebäudeensembles auch manchen Kritiker. Das Größenverhältnis zwischen den Minaretten, die 55 Meter messen sollen, und den Türmen des Kölner Doms mit 157 Metern entspricht tatsächlich etwa dem Zahlenverhältnis zwischen Katholiken und Muslimen in Köln. Genaue Daten über die Anzahl der praktizierenden Muslime existieren allerdings nicht, denn deren Gemeinden führen nicht Buch über Mitgliedschaften. Fast ein Drittel aller Kölner verfügt über den vielzitierten Migrationshintergrund. Fast die Hälfte aller Kölner sind zumindest auf dem Papier Katholiken.
Die hier lebenden Menschen islamischen Glaubens bilden eine heterogene Gruppe, der eine verallgemeinernde Darstellung nicht gerecht werden kann. Natürlich gibt es Bereiche, in denen die vielgeforderte Integration zu wünschen übrig lässt. Migrantenkinder können zuweilen, obwohl deren Familien in der dritten Generation hier leben, wenig Deutsch sprechen. Rechte Scharfmacher übersehen in ihrer Kritik allerdings gern, dass jenen Kindern auch eine ausreichende Sprachkompetenz in ihrer Muttersprache fehlt. Bilingualer Analphabetismus ist eher eine Folge verfehlter Bildungspolitik als mangelnden Integrationswillens der Betroffenen. Aber längst ist Migrant nicht mit Muslim und Muslim nicht mit Unterschicht gleichzusetzen. Inzwischen sind Muslime in allen gesellschaftlichen Bereichen vertreten und von ihren altdeutschen Mitmenschen oft nicht mehr zu unterscheiden. In Chefetagen und auf Regierungsbänken, in Universitäten und im Kulturbetrieb, in Parteivorständen und Fußballnationalmannschaften sind Menschen muslimischen Glaubens anzutreffen. Wenn Rechtsradikale oder auch „pro Köln“ ein reinrassiges Land fordern, handeln sie nicht nur dumm und moralisch verwerflich, sie kommen auch viel zu spät. Längst ist die Bunte Republik Deutschland Realität.

Bushido und Burka widersprechen sich nicht. Die Multikultur ist längst in der islamischen Welt angekommen.

Geht ein neues Gespenst um in Europa? Kann es eine multireligiöse, friedliche Gesellschaft geben, hier im Rheinland, in NRW und darüber hinaus? Oder ist Gott am Ende gar kein Christ?

Diese Entwicklung betrifft übrigens nicht nur die alteingesessenen Inländer. Viele Jugendliche mit muslimischen Wurzeln entfernen sich von dem Glauben ihrer Eltern. Mancher Junge aus Chorweiler, der mit Basecap, weiter, weißer Satinhose und schweren goldenen Ketten um den Hals vor dem Lebensmitteldiscounter abhängt und von seiner Karriere als Gangsta-Rapper träumt, hat sich erheblich von den religiösen Vorstellungen seiner Eltern entfernt. Der Imam von Ehrenfeld wird in naher Zukunft vor genauso leerem Haus predigen wie seine christlichen Kollegen. Dies zumindest prophezeite vor einigen Jahren Günter Wallraff im Rahmen des Moscheestreits. Mädchen mit Kopftuch gehen zusammen mit ihren Freundinnen, die mit ihrer Kleidung den Bauch nicht und das Gesäß nur spärlich verhüllen, gemeinsam Arm in Arm in Kalk, Vingst oder der Innenstadt shoppen. Bushido und Burka widersprechen sich nicht. Die Multikultur ist längst in der deutsch-islamischen Welt angekommen.
Warum also wird der Islam trotz dieser Vielfältigkeit so gern als Feindbild benutzt? Das Wissen über die fremde Religion ist in breiten Teilen der Bevölkerung fragmentarisch geblieben. Dabei gibt es im direkten Vergleich zum Christentum mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes zu entdecken. Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind in beiden Religionen wichtige Säulen. Die Pflicht zur Gottesfurcht und die Angst vor Verdammnis bei Abfall vom Glauben sind sowohl bei der Lektüre des Alten Testaments wie des Korans zu lernen. Ob Frauenemanzipation eher durch einen erzkatholischen Erzbischof oder einen liberalen islamischen Geistlichen befürwortet wird, wäre zu diskutieren. Terroristen haben auch in jüngster Zeit beide Weltreligionen hervorgebracht. Wenn in London eine Bombe explodiert, ist zunächst oft unklar, ob sie von al Qaida oder von der IRA, also von Islamisten oder Katholizisten gezündet wurde. Und in Köln wird das Abendland doch eher von Stadtplanern als vom Islam bedroht. Die Sicht auf den Dom verstellen keine Minarette, sondern sehr weltliche Hochhäuser.


Lutz Debus

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