Eines sei ihr doch sehr wichtig, sagt Nil Yalter: Die Gastarbeiterbewegungen der 1970er Jahre, auf denen wesentliche Teile ihrer Arbeit beruhen, hatten ökonomische Hintergründe – gar nicht zu vergleichen mit der heutigen Flüchtlingsmigration. Aber, so ergänzt die in Paris lebende Künstlerin: Die Probleme und Zustände von damals gäbe es immer noch – leider! Nil Yalters Werk beschäftigt sich mit sozialkritischen Themen, mit Rollenzuweisungen, Randgruppen und Ausgrenzung, sie thematisiert Aspekte des Feminismus und der geschlechtlichen Identität, und zwar bevor dies ein gesellschaftliches und kulturelles Thema geworden ist.
Nil Yalter ist mit 81 Jahren ausgesprochen agil, schnell im Gespräch, aber auch eine gute Zuhörerin. Eine solche Intensität steckt auch in ihren oft mehrteiligen Werken, die zu Wort kommen lassen – buchstäblich: Sprache und Schrift als visuelles Phänomen sind wesentliche Motive ihrer Arbeit. Ein anderes ist das Ornament, das dem islamischen Kulturraum entlehnt ist, und vielleicht hängt damit auch ihre Neigung zur Serie zusammen. Die Serie mit ihrer Multiperspektivität und Variation des Standpunktes trägt bei Yalter erst recht zur Vertiefung des Themas bei, in ästhetischer, dem Minimalismus verwandter Form.
Nil Yalter wurde als Kind türkischer Eltern in Kairo geboren; ist in Istanbul aufgewachsen, arbeitet als Schauspielerin und reist 1957 als Pantomimin durch den Iran. 1965 übersiedelt sie nach Paris, wo sie ihr Kunstwissen, das sie zuvor Büchern und Zeitschriften entnommen hat, aktualisieren kann. Die Ausstellung im Museum Ludwig zeigt als früheste Werke ihre Bilder mit geometrischen, oft runden Farbflächen (1967-69), die in ihrer Farbigkeit auf die Pop Art reagieren.
Als zentrales Medium von Nil Yalter erweist sich schon bald die Fotografie, die s/w oder als Polaroid dokumentiert und so ungefiltert die Realität einfängt. Wie ein Echo begleiten von ihnen abgeleitete Konturzeichnungen die Aufnahmen, aber nun sind die Gesichter ausgespart: Angesprochen ist die Ausgrenzung der Immigranten, die keine Stimme erhalten. Aber es lässt auch an das Verhüllen der Frauen im Islam denken. In der Fotografie fokussiert der Ausschnitt die häusliche Tätigkeit selbst und damit die Reduktion der Menschen auf diese, wie in der Arbeit „Neunkirchen“ (1975).
Yalter hat genauso Videos aufgenommen, in denen sie türkische Immigrantenfamilien zu ihren Lebensbedingungen befragt – die ersten Videos einer Künstlerin in Paris, ergänzt Rita Kersting, die die Ausstellung für das Museum Ludwig kuratiert hat. Und Yalter hat die Monitore für „Turkish Immigrants“ (1977) zur Videoskulptur angeordnet. In der Erkenntnis, wie aktuell die Themen bis heute sind, hat sie zudem 2012 eine Plakataktion im Stadtraum gestartet und einzelne der Filmstills in Reihen angeordnet und darüber in Rot in der jeweiligen Landessprache der hier lebenden Immigranten geschrieben: „Exil ist harte Arbeit“. In verschiedenen Stadtteilen von Köln gibt es diese Plakatwand zu entdecken, als Guerilla-Projekt ist sie an diejenigen gerichtet, von denen sie handelt: Nil Yalter bleibt im Dialog mit der Lebenswirklichkeit.
Nil Yalter – Exile Is a Hard Job | bis 2.6. | Museum Ludwig | 0221 22 12 61 65
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