Seit elf Jahren findet in Köln das Sommerblut-Festival statt: Zeit genug, um sich an den seltsamen Namen zu gewöhnen – und peu à peu ein eigenes Profil zu entwickeln. Nach den ersten Jahren, in denen Festivalleiter Rolf Emmerich mit Zahlen jonglierte, als gelte es einen Rekord im Wettrennen um die meisten Events innerhalb kürzester Zeit aufzustellen, besinnt man sich nun auf die Tugend der Unverwechselbarkeit. Dabei herausgekommen ist eine beeindruckende Mischung aus ambitionierten Beiträgen, deren offiziöse Ankündigungen nicht der Komik entbehren.
Da tummelt man sich auf dem Minenfeld skurriler Sprachschöpfungen, bedient sich aus dem einschlägigen Vokabular kunsttheoretischer Begriffe und bastelt auf diese Weise einen verwirrenden Zusammenhang, der die heterogenen Veranstaltungen unter einen Hut bringen soll. Da werden die „Grenzen normaler Sehgewohnheiten“ ausgelotet, Perspektivwechsel angestoßen, „unterschiedliche Sichtweisen“ sollen gleichzeitig verstören, verbinden und versöhnen und – da muss man erst mal drauf kommen – „multipolare Kunst und Kultur“ werden zu einer Art Qualitätssiegel.
Dabei hätte man angesichts des vielschichtigen Programms den pseudo-intellektuellen Überbau, mit dem das „Festival der Multipolarkultur“ vom 10. bis 28. Mai aufwartet, gar nicht nötig. Es würde durchaus genügen, die Besonderheiten der jeweiligen Veranstaltungen hervorzuheben. Als da sei zum Beispiel der „Aufschrei der Verdammten“. Die Kammeroper Köln präsentiert die „bewegendsten Arien der Operngeschichte“ (am 12. und 19. Mai im Italienischen Kulturinstitut). Hier werden „Existenzen am Rande unserer Gesellschaft im Wandel der Jahrhunderte“ in den Mittelpunkt gerückt – man darf sicher sein, dass die professionellen Stimmen der Sänger umweglos unter die Haut gehen.
Einem der derzeit ausgiebig durch den Medienwolf gedrehten Thema widmet sich das Festival mit dem Schwerpunkt Demenz, einem Krankheitsbild, das hier unter dem klingenden Titel „Demenzia + Art“ subsumiert wird. Am 18.5. geht im Bürgerhaus Stollwerck mit „Anderland“ das Theaterprojekt der Regisseurin Barbara Wachendorff über die Bühne. Vier Patienten sollen – begleitet von Schauspielern – für mehr „Verständnis für dementiell erkrankte Menschen und deren Familien“ sorgen. Beim „Festivalball – Wir tanzen wieder“ werden (am 14.5. in der ADTV Tanzschule Stallnig-Nierhaus) mit Hilfe von Musik verschüttete Emotionen der Betroffenen aus der Reserve gelockt.
31 Jahre hat das Stück des Holländers Joop Admiraal „Du bist meine Mutter“ auf dem Buckel und weist erstaunlicherweise keinerlei Alterserscheinungen auf. In dem am Amsterdamer Werktheater uraufgeführten Ein-Personen-Drama spielte dereinst der Autor die Doppelrolle des Sohnes und der an Demenz erkrankten Mutter. In dem am 26.5. im Freien Werkstatt Theater anberaumten Gastspiel übernimmt Achim Conrad eben jene Rolle, in deren Verlauf die fragile und gleichzeitig bodenständige Beziehung zwischen Mutter und Sohn mit ironischen Untertönen angereichert wird.
Wer alles über die 60 Veranstaltungen in rund 25 Kölner Häusern erfahren will, kann sich unter www.sommerblut.de schlau machen und natürlich die gewünschten „unipolaren“ Tickets bestellen. Unvergesslich sein werden im Übrigen auch die „schönen Lieder“, mit denen Georgette Dee am 28.5., dem letzten Tag des Festivals, im Gloria die „normalen Hörgewohnheiten“ einem multipolaren Belastungstest unterzieht, dem ich mich nicht verweigern werde, um auf verstörende Weise versöhnt zu werden. – Was all jenen ans Herz gelegt sei, die an die Grenzen ihres Sprachvermögens vordringen möchten, genau wie die Ihnen stets ergebene
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