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Zwischen Enten-Airbags und Befreiung: „Gertraud Stock“ in der TanzFaktur
Foto: Rebecca Ramlow

Wer ist Gertraud Stock – und wenn ja, wieviele?

27. Juni 2017

Impulse: „Die Erfindung der Gertraud Stock“ von vorschlag:hammer – Bühne 06/17

Es ist heiß. Dicht gedrängt sitzen wenige auserwählte Zuschauer auf einem Podium in der TanzFaktur. Nicht, weil keiner hier hinwill, sondern: Mehr passen nicht hin. Das Ticken der Lichtmaschine ist zu hören. Angespannt warten sie auf die Künstlergruppe. Dann kommen zwei Männer und zwei Frauen in skurrilen Kleidern auf die Bühne. Es entsteht direkter Augenkontakt zwischen Publikum und den Schauspielern. So intim, dass man flüchten möchte. Man fühlt sich beobachtet. Die Köpfe der vierköpfigen Schauspielgruppe verwandeln sich nun in seltsame Luftballons, die wie ein Airbag aussehen. Eines in Form einer Ente. Eine Airbag-Ente. Das Motiv des Vogels soll uns später noch öfters begegnen.

Was nun beginnt, ist eine collagenhafte Interpretation des Lebens der Gertraud Stock. Oder wie dieses hätte sein können. Durch sich abwechselnde Monologe und Darbietungen der einzelnen Schauspieler, die die verschiedenen (potenziellen) Seiten der Gertraud Stock widerspiegeln sowie Dia-, Film- und Radioinstallationen bis hin zu einem Fotoalbum wird das Leben einer 85-jährigen Power-Frau mit dem etwas klobigen Namen „Gertraud Stock“ beleuchtet. Jene führte offensichtlich ein recht abwechslungsreiches und sogar wildes Leben.

1932 im konservativen Regensburg leider in die Hitler-Zeit hineingeboren, heiratete sie früh und wurde Mutter mehrerer Kinder, ohne, dass sie je gefragt wurde, ob sie das wollte. Viel später jedoch lässt Gertraud sich von ihrem Ehemann scheiden. Mit 35 erlebt sie schließlich ihren ersten Orgasmus. Eine Zeit lang in Berlin lebend, mutiert sie zwischendurch sogar zur RAF-Sympathisantin und zur Feministin und hat später viel Spaß mit vielen verschiedenen anderen Männern, bevor sie schließlich, an einer chronischen Darmerkrankung leidend, in einem Heim den letzten Abschnitt ihres Lebens antritt, der dann wieder weniger mit Sex bespickt ist. Kontrastiver könnte ein Leben kaum sein.

Wie fühlt es sich an, alt zu sein? Wie fühlt sich das Leben einer älteren Frau an? Wie reflektiert eine solche ihr Leben? Wer ist Gertraud Stock – und wenn ja, wieviele? Diesen Fragestellungen ging das 2009 ins Leben gerufene Schauspielkollektiv vorschlag:hammer nach, das zu seinem Stück zuvor seine eigenen Omas sowie ältere Frauen in Einrichtungen besuchte und interviewte. Und tatsächlich hat die überraschende Wandlung der Gertraud die eine oder andere Ähnlichkeit mit der offenbar coolen Oma von Schauspieler Stephan Stock, wie er im anschließenden Artist-Talk verrät.

Das Ergebnis ist ein bunter Potpourri mit Augenzwinkern, der den Zuschauer auf eine Reise in die Vergangenheit der Gertraud Stock mitnimmt. Aber nicht nur das: Es ist auch eine auf die Bühne gebrachte soziologische Studie über jene Generation, die entweder komplett ignoriert oder kategorisch mit „arm und krank“ betitelt wird, obwohl das Leben einer über 80-Jährigen viel mehr als das sein kann, wie im Falle Gertraud Stocks. Es geht um Zeit und Raum, um das Erinnern, um Entscheidungen, um Spaß und Leben, schließlich aber auch um Angst, Schmerzen, Krankheiten, Alter, Armut und den unausweichlichen Tod.

Interaktiv wird der Zuschauer permanent integriert: So muss er sich von einem Raum in den nächsten schleifen lassen, auch, wenn er schwitzt. Er muss sich in dieses verdammte Leben dieser komischen Gertraud, die nicht mal mehr 20 ist, hineinzwängen, sich gar von ihr betatschen lassen, Monologe auf ossi-deutsch über sich ergehen lassen, sich in piepsiger vogelhafter Stimme von ihr beschimpfen lassen, nur um später von Enten darüber ausgelacht zu werden, oder in einem anderen Raum mit ihr und wiederum Vögeln auf der Erde auf den Tod zu warten. Wer oder was sind diese Vögel? Symbole für Freiheit? Für die Metamorphose der Gertraud? Was hiervon ist eigentlich echt? Und was Fiktion?

Und so ist es nicht erstaunlich, dass das Publikum im letzten Raum zu grübeln beginnt: Über das eigene Leben und über das, was noch kommen mag, und über die eigenen Entscheidungen. Fast kommt ein wenig Neid auf: Diese Gertraud hat in ihrem Leben das Ruder aber nochmal ganz schön herumgerissen. Für ihr Alter. Für ihre Generation. Und dafür, dass sie eine Frau dieser älteren Generation ist. Die eigentlich leider vor dem Krieg in eine recht konservative und komische Zeit hineingeboren wurde. Und schon wieder sind da Klischees, die gar nicht da sein sollten. Und so lässt Gertraud ein wenig Hoffnung aufkommen: Dass trotz höher werdenden Alters nicht alles schlechter werden muss. Dass Frau auch dann noch flott und wild sein kann. Vielleicht sogar flotter und wilder als am Anfang. Jedenfalls gibt es sicherlich mehr als nur eine Realität. Vielleicht war aber auch alles nur erfunden.

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Rebecca Ramlow

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