Es gibt einen Moment, bevor die Sonne vollständig untergegangen ist, in dem man den roten Feuerball nicht mehr sieht, sein Licht aber noch leuchtet. Die Menschen verwandeln sich dann in Silhouetten, deren scharfe Konturen sich schwarz vom Horizont abheben. In Japan kennt man sich mit Auf- und Untergängen der Sonne aus, trägt das Land die Sonne doch im Emblem. „Es gibt im Japanischen unzählige Begriffe für diesen Zustand“, erklärt Yoshie Shibahara, die ihn schon als Kind vom Garten ihres Elternhauses aus an einer nahen Bahnstrecke beobachten konnte (siehe Foto).
Die japanische Choreographin lebt in Köln und gehört seit zwei Jahrzehnten zum festen Bestandteil der nordrheinwestfälischen Tanzszene. Ihre neue Produktion trägt den Titel „Zeitgrenzraummaschine“ und bezieht sich auf dieses Phänomen, das im Japanischen „Ōmagatoki“ heißt und die Auflösung der Grenzen in einer Übergangszeit bezeichnet. In diese Zeit fallen für Japaner die Begegnungen mit den Dämonen und die Vorboten der Katastrophe. Mit letzteren haben die von Erdbeben heimgesuchten Insulaner immer zu rechnen. Aber ist das Bild von den Dämonen und dem drohenden Ende nicht auch eine überaus pointierte Beschreibung unserer gegenwärtigen politischen Situation?
Yoshie Shibahara ist eine große Künstlerin der Andeutung. So versteht sie auch die neue Installation, die in den Räumen der Tanzfaktur zu sehen sein wird, als eine Art Medium, das uns Betrachtenden wie ein Fenster dienen soll, durch das wir auf etwas tiefer Liegendes schauen können. „Das Unsichtbare sichtbar machen“, darin besteht das Credo ihrer Kunst, die sich auch dem Unhörbaren und dem Untastbaren verschrieben hat, wie sie sagt. Gleichwohl arbeitet sie mit Material und Körper, aber eben mit einer Subtilität, deren feine Sinnlichkeit den Geist anregt. Diesmal sind es weiße Stoffe, die sich so verformt haben, dass man den Wind erahnen kann, der vermeintlich durch sie hindurch gegangen ist. Man solle spüren, dass die Erinnerung noch Spuren im Raum hinterlassen hat, erklärt sie. Mit einer Art Rückblick aus der Zukunft nehmen wir dabei unsere Gegenwart ins Visier. Es ist diese meditative Konzentration, mit der Yoshie Shibahara nicht erst in dieser aktuellen Arbeit die hiesige Kunstszene beschenkt.
Zeitgrenzraummaschine | 26. (P), 27.4. je 20 Uhr | Tanzfaktur | 0221 22 20 05 83
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Tanzen, auch mit Prothese
Inklusive Tanzausbildung von Gerda König und Gitta Roser – Tanz in NRW 01/25
Die Erfolgsgarantin
Hanna Koller kuratiert die Tanzgastspiele für Oper und Schauspiel – Tanz in NRW 12/24
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
„Wir wollen Rituale kreieren“
Regisseur Daniel Schüßler über „Save the planet – kill yourself“ in Köln – Premiere 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Tanz auf Augenhöhe
„Chora“ in der Tanzfaktur – Tanz in NRW 12/23