Montag, 13. April: Subkulturen hatten es in der DDR schwer. Als 1985 der US-Film „Beat Street“ in der DDR zugelassen wird und im empfangbaren Westfernsehen Breakdancer auftreten, sind Jugendliche nicht schlecht von dem aufregenden neuen Tanzstil beeindruckt. So auch Frank Satzke (Gordon Kämmerer), den es zur Unmut seines Vaters (Arved Birnbaum) wie ein Stomschlag trifft. Seine tänzerischen Aktivitäten mit den Freunden Martina (Sonja Gerhardt), Alex (Oliver Konietzny) und Michel (Sebastian Jäger) werden allerdings von Stasi und Kulturrat (Vorsitz: Wolfgang Stumph) mit Misstrauen beäugt und sollen unter Olympia-Trainer Dietz (Rainer Bock) in die Kulturlandschaft eingepasst werden. Basierend auf wahren Begebenheiten, aber mit unverkrampfter Erzählweise holt Regisseur Jan Martin Scharf mit „Dessau Dancers“ den Breakdance zurück ins Kino, gibt in Humor verpackte Einblicke in die DDR-Realität und zeigt seine Protagonisten unter Anpassungsdruck. Dabei spart er nicht mit stimmungsvollen Tanzszenen. Am Premierenabend im Cinenova, nach einer Ansprache von Produzentin Jana Velber (Boogiefilm), sprang zur Einstimmung sogar eine Breakdance-Gruppe aus Köln-Nippes auf die Bühne.
Jan Martin Scharf, Jahrgang 1974, erklärte mir nachher, er sei mit Hip-Hop „musiksozialisiert“ worden: „Wir wollten alle DJs werden.“ Neben dem Bezug zum Breakdance erinnerte er sich aus seiner Jugend auch sehr gut an die im Film wichtige Frage, „ob man ‚real‘ oder ein ‚sell-out‘ ist. Daran sind Freundschaften zerbrochen.“ An der Kunsthochschule (KHM) habe dies die Form des Gegensatzes „Kunst oder Kommerz“ angenommen. „Jeder musste irgendwann entscheiden, ob er sich für Erfolg oder Privilegien anpassen wollte.“ Vor westdeutscher Kulisse war jedoch mit Hip-Hop keine interessante Geschichte zu erzählen, denn „es war ja in Ordnung, die Fantastischen Vier zu hören.“ Über die Presse und später den Dokumentarfilm „Here We Come – Breakdance in der DDR“ erfuhr er mehr und mehr über die DDR-Breakdancer, setzte sich mit Zeitzeugen zusammen und las eine „300-seitige Doktorarbeit“. Der sozialistisch zum „Schautanz“ gemachte Breakdance sei kein Spaß gewesen, man habe ihm von bis zu 60 Auftritten in der Woche (!) berichtet, darunter auch vor salutierenden Marinesoldaten. Körperlich sei es eine umso größere Leistung gewesen. Obwohl im Film Jugendliche im Zentrum stehen, habe er kein bestimmtes Zielpublikum im Sinn gehabt, sondern den Film „so gemacht, wie ich ihn machen musste“.
Die Idee entwickelte Scharf zusammen mit Produzentin Velber, das Drehbuch schrieb Ruth Thoma. Gedreht wurde dann in Halle und Umgebung sowie NRW, was die meisten Innenaufnahmen betraf. WDR-Redakteurin Andrea Hanke erzählte mir, der Film sei vom SWR her zu ihr gekommen, der den WDR mit ins Boot holen wollte. „Ich hatte bereits Jan Martin Scharfs ersten Spielfilm ‚Wahrheit oder Pflicht‘ betreut und fühlte mich von daher mit ihm verbunden. Die Idee fand ich witzig und interessant.“ Sie habe auch den Dokumentarfilm schon gekannt.
Hauptdarsteller Gordon Kämmerer (im realen Leben ohne Schnurrbart) sieht man seine jetzigen 28 Jahre nicht an. Er habe in dem Ende 2013 gedrehten Film einen 19-jährigen gespielt, nachdem er über ein gewöhnliches Casting in Berlin an die Rolle gekommen sei. Als er auch vortanzen musste, habe er glücklicherweise „von früher“ noch etwas gekonnt. Doch für den Film reichte das natürlich nicht: „Ich habe ein Dreivierteljahr trainiert.“ Ähnlich sei es bei den anderen gewesen, Sonja Gerhard habe ganz bei null angefangen. Zum Glück habe man sich dagegen entschieden, klischeehaft ostdeutsche Akzente zu verwenden. Der Film sei bereits auf diversen Festivals gelaufen, und so habe Kämmerer auch den Filmkunstpreis Sachsen-Anhalt/Nachwuchs gewonnen. Die Frage, ob er seitdem in weiteren Filmen mitgespielt habe, verneinte er, vielmehr habe er am Theater gearbeitet. „Ich habe an der ‚Ernst Busch‘ [in Berlin] Theaterregie studiert. In Leipzig läuft gerade meine Inszenierung ‚Das Tierreich‘.“ Das erwartet man so gar nicht, wenn man sein junges Alter ego Frank Satzke noch frisch im Kopf hat.
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„Dessau Dancers“ läuft ab 16.4. im Kino. Lesen Sie auch das Interview mit Rainer Bock.
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