Tanz und Politik. Auf den ersten Blick zwei sich widersprechende Bereiche. Das jedenfalls scheint sich nicht nur in den Körpern, sondern auch in den Köpfen von Tänzern und Choreografen festgesetzt zu haben. Wenn überhaupt, dann bringt man den Begriff des „politischen Körpers“ gerade noch mit dem Ausdruckstanz der Weimarer Republik in Verbindung. Barfuß und ohne einengendes Korsett war schon der Körper der Tänzerinnen seinerzeit ein einziger politischer Protest. Doch die Zeiten haben sich gewandelt, und Politik hatte bald nichts mehr auf den Tanzbühnen zu suchen. Stattdessen machte es sich der zeitgenössische Tanz auf der Beziehungs-Couch bequem. Selbsterfahrung in allen Varianten, von Körperlesung bis Urschrei, bestimmte bald die Inhalte vieler Tanzstücke.
Der choreografische Selbsterfahrungs-Trip ging dann nahtlos über in die Gender-Problematik. Auch heute noch spielen ansonsten geschmackssichere Choreografinnen damit. In ihrem „Generationenprojekt“ stellt die Kölner Choreografin Silke Z. gerade zwei Mütter über Vierzig vor. Erkenntniswert des sozialpädagogischen Projektes: Die eine trinkt, die andere schwärmt für die prallen Oberarme jüngerer Männer (sic!).
Wie gut, dass es immer schon Choreografinnen und Choreografen gab, die gegen den Strom schwimmen, denen die zum gesellschaftlichen Leitbild ausgerufene Political Correctness gegen den Strich geht. Schließlich dient die nur dazu, das angeblich Inkorrekte unter die Teppiche zu kehren. Politisches Theater hat in Deutschland eine lange Tradition. Politischer Tanz nicht. Das aber hat der Tanz selbst zu verantworten, der sich offensichtlich nie stark genug fühlte, die Bewegungen des Körpers politisch bewusst einzusetzen.
Fast schon revolutionär muss es dann wohl genannt werden, dass die selbst gehandicapte Kölner Choreografin Gerda König den gesellschaftlichen Blick auf die Behindertenfrage gelenkt hat. 700 Millionen disabled people (so heißt es politisch korrekt) leben auf der Erde: zehn Prozent der Weltbevölkerung! Und in Düsseldorf ist VA Wölfl mit seinen Tanzstücken unermüdlich unterwegs, um gegen Gewalt und Unterdrückung anzutanzen. In Köln wiederum hat gerade die neueste Inszenierung des movingtheatre.de (wir berichteten) gezeigt, dass das Politische dabei ist, die Tanzbühne zurückzuerobern.
Noch sind es Tanzstücke, die sich eher allgemein gegen eine „Gesellschaft kurz vor der Explosion“ oder die Gewalt an namenlosen Orten richten. Doch inzwischen nennt der Tanz auch Namen. So wie kürzlich im Tanz-Gastspiel des Londoner Physical Theatre DV8 im Kölner Schauspielhaus. Selten wurde so offen gegen islamistische ebenso wie gegen westliche Intoleranz getanzt. Unkorrekt wettert Choreograf Llyod Newson gegen einen unerträglichen Kultur-Relativismus, der bei vielen zur Selbstzensur führt und der die Morde radikaler Islamisten an liberalen islamischen Journalisten, Künstlern, Wissenschaftlern verharmlost.
Für die Wankelmütigkeit westlicher Politiker findet Newson eine hüpfende Bewegungssprache, die diese Correctness-Politiker völlig zu Recht der Lächerlichkeit preisgibt. Langsam besinnt sich der Tanz seiner Möglichkeiten.
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