Die eiserne Faust der Aufklärung haut dann doch noch auf den Tisch. Kurz vor dem Ende kommen die Hard Facts ans Licht: Wie viel tausend Menschen sich prostituieren, dass 95 Prozent davon Frauen sind, dass die meisten von Zuhälter gezwungen werden, wieviel Kohle damit umgesetzt wird. Nichts davon steht im Text von Björn SC Deigners Dramolett „In Stanniolpapier“ über die Prostituierte Maria. Ein Stück, das zwischen Hurenklischees, wie dem Vater als Säufer oder der großen Liebe zum Zuhälter, eine schwer erträgliche Ambivalenz platziert. Dass diese Maria nach dem Bürojob nicht unwillig auf den Strich geht. Das war dem jungen Regisseur Matthias Köhler dann offensichtlich zu vieldeutig.
Es ist nicht die einzige „Verdeutlichung“ an dem Abend, der eigentlich eindrucksvoll beginnt. Köhler und sein Ausstatter Ran Chai Bar-zvi entwerfen ein einfaches Setting: Auf einer knarzenden Drehscheibe tänzeln zwei Frauen und ein Mann in weißen Flokati-Jacken mit Nylons und High Heels (Sandrine Zenner, Birte Schrein, Manuel Zschunke). Sie ironisieren den Tabledance, formieren sich mal zum Hurengrüppchen, machen das Publikum an, liefern eine Psychologie der Freier, marschieren im High-Heels-Trippelschritt. Den Text sprechen sie mal im Chor und teilen sich ansonsten die unterschiedlichen Rollen auf. Köhlers Idee, die auf den ersten Blick banal-realistisch wirkt, hat einen verblüffenden Effekt. Sie verschmilzt einerseits erzählende Passagen und Rollentexte zu einem kollektiven Ich der Prostitution. Der Text verdichtet sich zu einem inneren vielstimmigen Monolog. Andererseits wird Prostitution zu einer allgemeinen Zustandsbeschreibung vergesellschaftet, wenn Huren, Lehrer, Polizei, Arzt gleichermaßen aus dem Innern eines Flokati-Jäckchens sprechen. So weit, so klug.
Doch Köhler belässt es nicht dabei, sondern schickt einen sechsköpfigen Chor von 60- bis 75-jährigen Statisten auf die Bühne, der auf einer halbrunden Bank hinter der Drehscheibe Platz nimmt. Die Metapher vom „alten weißen heterosexuellen Mann“, der hier singen, Texte skandieren, im Bademantel und Feinripp posieren darf, wird wörtlich übersetzt, was an der gesellschaftlichen Realität von Freiern und Zuhältern allerdings völlig vorbeigeht. Ideologische Formeln taugen selten zu gesellschaftlichen Zustandsbeschreibungen. Zugleich rüstet die anfangs zurückhaltende Inszenierung auf. Wenn Maria als Hure mit Herz Obdachlose mit aufs Zimmer nimmt, setzt sich die dreifaltige Maria zu den Rentnern. Oder sie trägt Heiligenschein und Neon-Herz. Wenn sie an einen brutalen Freier gerät, stülpen sich die Rentner Bärenmasken über. Das Marien-Trio, das zwischendurch in fleischfarbenen Bodies und im kleinen Schwarzen posiert, steht schließlich in weißen Kitteln da: Zwischen Krankenhauspatientin und Engel. Köhler pusht die Szene immer stärker mit Effekten, anstatt den eigenen Mittel zu vertrauen; und er übertüncht die Ambivalenz des Textes mit der nachgereichten Prostitutionsstatistik. Das ist nach dem vielversprechenden Beginn schade, sollte man aber trotzdem ansehen.
„In Stanniolpapier“ | R: Matthias Köhler | 27.9., 10., 18., 25.10. 20 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 01
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