Geschockt sei er gewesen und zu Tränen gerührt, so erzählt Wim Wenders, als er erstmals in den achtziger Jahren das Tanztheater von Pina Bausch erlebt hat. Besonders das Tanzstück „Café Müller“, in dem Pina bis zu ihrem Tod 2009 immer wieder getanzt hat, habe ihn sehr erschüttert. Wie ihm ist es damals vielen gegangen. Man fühlte sich von der Ambivalenz der Gefühle, die ihre Bilder auslösten, regelrecht überwältigt.
In seinem dokumentarischen Film „Pina“, der bei der Berlinale uraufgeführt wurde und seit einer Woche in den deutschen Kinos läuft, bringt Wenders auch das in Erinnerung. Das Bausch-Zitat im Filmtitel „tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“, klingt wie ein Vermächtnis, das Pina, wie sie viele liebevoll nennen, der Nachwelt hinterlassen hat. Deshalb will der Film sie auch nicht als Erfinderin einer neuen Kunstform vorstellen, sondern lässt die Tänzer über ihre Arbeit mit Pina erzählen. Dazu werden Tanzszenen gezeigt, die im Freien gedreht wurden. Sind damit schon die Grenzen zwischen dem Tanz und der Realität überschritten, so werden mit dem 3-DVerfahren auch die räumlichen Grenzen erweitert.
"Die Ambivalenz der Bilder überwältigt"
Und inhaltlich hatte Pina Bausch ohnehin längst die Begrenzung des Bühnenraums aufgehoben, indem sie die Probleme der Menschen, ihre Sehnsüchte und Ängste auf die Bühne gebracht hat. In ihren Stücken haben sich die Menschen wiedererkannt: liebend, leidenschaftlich, zärtlich, gewalttätig. Menschen wie sie sind, nicht wie sie in einer normierten Gesellschaft sein sollen. Den Film wollten Pina und Wim Wenders gemeinsam drehen. Dann starb sie und Wenders wollte aufhören. Doch die Tänzer drängten ihn, weiter zu machen. Wie gut, denn der 100-minütige Film ist zum beeindruckenden Dokument einer Kunstform geworden. „Mich hat Bewegung als solche vorher nie berührt“, sagt Wim Wenders, „ich habe die immer als gegeben vorausgesetzt. Man bewegt sich eben. Alles bewegt sich. Erst durch Pinas Tanztheater habe ich auf Bewegungen, Gesten, Haltungen, Gebärden, Körpersprache achten gelernt. Und diese dadurch erst achten gelernt“.
Grenzen überschreiten
Eine andere Choreografin, die die traditionellen Grenzen des Theaters aufbricht und die Begrenzung des Bühnenraums mit in ihre Tanzstücke einplant, ist Anouk van Dijk. In ihrem Tanzstück „Stau“, das vom 10. bis 12. März in der Halle Kalk in Köln aufgeführt wird, geht sie sogar noch einen Schritt weiter. Sie sucht nach einer neuen Form der Beziehung zwischen Darsteller und Publikum. Das anfangs begrenzte Bühnenquadrat dehnt und weitet sich zu einem grenzenlosen Raum, in dem sich mit dem Stück auch die Beziehung zum Zuschauer verändert. Spielerisch, humorvoll, bewegend, theatral entwickelt sich die physische Nähe in „Stau“ zu emotionaler Intimität.
Solche Nähe zuzulassen, ist nicht jedermanns Sache. Bei Anouk van Dijk wird anders inszeniert und anders getanzt als bei Pina Bausch. Doch die emotionalen Erfahrungen, die man als Zuschauer macht, sind ähnlich. Es ist seltsam, so die Tanzkritik, dass wir Menschen für diese Erfahrung eine Tanzaufführung brauchen.
„Stau“ I Do. 10.3. - Sa. 12.3., je 20 Uhr I Halle Kalk Köln
www.pina-bausch.de I www.schauspielkoeln.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Tanz auf Augenhöhe
„Chora“ in der Tanzfaktur – Tanz in NRW 12/23
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23
Kinshasa und Köln
„absence#4“ im Barnes Crossing – Tanz in NRW 09/23
Tänzerinnen als „bad feminist“
tanz.tausch in Köln – Tanz in NRW 08/23
Das Gras wachsen hören
„Grün“ von tanzfuchs – Tanz in NRW 07/23
Den Blick weiten
Internationales Tanz-Netzwerk Studiotrade – Tanz in NRW 07/23
Visionen, Mut und Fleiß
Rund zehn Jahre Kölner Tanzfaktur – Tanz in NRW 06/23
Dialoge der Körper
SoloDuo Tanzfestival in Köln – Tanz in NRW 05/23
Das überraschende Moment
Bühnenbildner miegL und seine Handschrift – Tanz in NRW 04/23
Gesellschaftlicher Seismograph
8. Internationales Bonner Tanzsolofestival – Tanz in NRW 03/23
Akustischer Raum für den Tanz
Jörg Ritzenhoff verändert die Tanzwahrnehmung – Tanz in NRW 02/23
Kann KI Kunst?
Experimente von Choreografin Julia Riera – Tanz in NRW 01/23
Wie geht es weiter?
Mechtild Tellmann schaut auf Zukunft des Tanzes – Tanz in NRW 12/22