Wie damit umgehen, wenn sich ein geliebter Mensch das Leben nimmt? Wie all die offenen Fragen, den Schmerz, die Schuldgefühle, die oftmals mit einem solchen Ereignis einhergehen, verarbeiten? Eine ganz persönliche Antwort darauf hat die Kölner Fotografin und Autorin Bettina Flitner gefunden: Sie hat den Selbstmord ihrer Schwester in einem Roman verarbeitet. Anfang Februar bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, wird sie ihn am 22. März im Rahmen der lit.Cologne erstmals vorstellen.
Flitner, die 1961 in Köln geboren wurde, hat an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin studiert. Seit 1990 arbeitet sie als Fotografin, wobei sie sich auf sozialkritische Fotoessays und Portraits spezialisiert hat. Großes Aufsehen erregte etwa ihre Fotoserie „Ich bin stolz, ein Rechter zu sein“, die rechtsradikale Jugendliche zeigt und dabei Widersprüche thematisiert, die schon Hannah Arendt in ihrer „Banalität des Bösen“ beschrieb. Flitners künstlerisches und fotografisches Wirken beschränkt sich jedoch nicht auf Deutschland: So portraitierte sie für ihren 2004 erschienen Band „Frauen mit Visionen“ herausragende Frauen aus ganz Europa; 2012 veröffentlichte sie einen Fotoband über ihre „Reisen in Burma“. Ihr neues Werk schlägt daher gleich auf zwei verschiedenen Ebenen neue Wege ein: „Meine Schwester“ist nicht nur ein sehr persönliches Buch, sondern auch ein Roman.
Die Idee dazu sei ihr ganz spontan gekommen: „Ich wusste fünf Minuten, bevor ich begonnen habe zu schreiben, nicht, dass ich es tun würde“, sagt Flitner. Angefangen zu schreiben habe sie im März 2020 während des ersten Corona-Lockdowns. „Die ganze Welt hielt den Atem an“, beschreibt Flitner rückblickend diese Zeit. „In dieser Stille klappte ich meinen Laptop auf, öffnete eine Schreibdatei und begann zu schreiben. Es hat mich selber überrascht.“ Flitner erzählt in ihrem Roman von ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend mit ihrer Schwester; sie schreibt über ihre Zeit an der Waldorfschule, Ferien auf Capri und erste Liebesabenteuer in der Pubertät. Dabei geht es auch immer wieder um das Thema Depression, das in Flitners Familie kein Tabu gewesen sei. „Ich bin mit der Depression aufgewachsen“, sagt die Fotografin. Sie selbst sei zwar nie betroffen gewesen, aber ihre Mutter, ihr Großvater, ihre Tante und ihr Onkel. „Irgendjemand in der großen Verwandtschaft hatte immer gerade eine Depression und es wurde offen damit umgegangen“, so die gebürtige Kölnerin.
Als sich dann nicht nur Flitners Mutter, sondern auch ihre Schwester das Leben genommen hätten, sei es dennoch „ein Schock, eine Katastrophe“ gewesen. „Das fühlt sich wie ein unausweichlicher Schicksalsschlag an“, sagt Flitner. „Etwas, dem man ausgeliefert ist.“ Das Schreiben habe ihr deshalb geholfen, ihre eigene Geschichte in die Hand zu nehmen. Es sei befreiend, über vermeintliche Tabuthemen wie Suizid und Depression zu sprechen. Und noch etwas habe sich durch den Prozess des Schreibens gezeigt. „Meine Schwester ist wieder da, unsere gemeinsame Geschichte ist nicht einfach verschwunden“, sagt die Autorin. „Durch das Schreiben ist das Leben zurückgekehrt.“
Bettina Flitner: Meine Schwester | Di 22.3. 21 Uhr | Kulturkirche Nippes | www.litcologne.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Entgrenzende Bröckchen
Sasha Marianna Salzmann mit „Außer sich“ auf der lit.Cologne – Literatur 03/18
Schreibtisch mit Rheinblick
lit.Cologne: Niedecken über das Songschreiben – Musik 03/17
Absurditäten, die Solidarität verlangen
Deutsch-türkische Solidaritätsveranstaltung zur „Freiheit des Wortes“ auf der lit.Cologne – Spezial 03/17
Eine Fotografin wie es noch keine gab
William Boyds Roman „Die Fotografin“ – Literatur 03/16
Schnitt ins Herz
Peter Stamm stellt auf der lit.Cologne einen großen Roman vor – Literatur 03/16
Die Einsamkeit eines Kindes
Michael Köhlmeier auf der lit.Cologne mit einem kleinen, wuchtigen Roman – Literatur 03/16
Erotik im Dom
Die lit.Cologne weiß mit ihrer 16. Auflage zu überraschen – Textwelten 01/16
Süße Liebe und ekelerregende Gemeinheit
Peggy Parnass kommt zur lit.kid.Cologne – Literatur in NRW 03/15
Amerikaner am Rhein
Die lit.Cologne verspricht ein starkes Programm – Textwelten 03/15
Je suis Michel
Houellebecq im Schauspiel Köln – Theaterleben 02/15
Neunmal volles Haus
Die lit.Cologne Spezial bietet schlagkräftiges Programm – Literatur 09/14
Spaß ohne Ende
Anthony McCarten liefert der lit.Cologne Pointen ohne Ende – Literatur in NRW 03/14
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
„Keine Angst vor einem Förderantrag!“
Gründungsmitglied André Patten über das zehnjährige Bestehen des Kölner Literaturvereins Land in Sicht – Interview 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24
Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24