„Ein Buch muss sich gut verkaufen“, meint Szczepan Twardoch. Sein Roman „Morphin“ soll dem 35-Jährigen in Polen schon 100.000 Euro eingebracht haben. In den etwa 600 Seiten ist alles enthalten, was man gemeinhin mit einem Erfolgsrezept verbindet. Es gibt ein historisches Ambiente, das hier die erste Phase des Zweiten Weltkriegs in Warschau und Budapest umfasst, viel Gewalt, manchmal krachend, manchmal sadistisch, eine Menge Sex mit Frauen, denen ihre körperlichen Abenteuer keinen Anlass bieten, um sie im Beichtstuhl weiter zu erzählen, und eine Kriminalgeschichte mit politischem Hintergrund. Denn Twardochs Protagonist besitzt eine Doppelidentität als Pole deutscher Herkunft. Zunächst ein Mitläufer, der sich in den Annehmlichkeiten eines vermögenden bürgerlichen Lebens zuhause fühlt, wechselt Leutnant Konstanty Willemann die Seiten und riskiert sein Leben im Widerstand.
Szcepan Twardoch stellte sich im Rahmen der lit.Cologne in der Kulturkirche den ungemütlichen Fragen von Olaf Kühl. Eine Attacke folgte der nächsten. Ob er auf kommerzielle Ziele hin schreibe, ob er die Polen nicht schärfer mit der Kriegsschuld konfrontiere als die Deutschen und ob die Frauen in seinem Buch nicht doch Dämonisierung und Pornografie anheimgegeben würden. Tatsächlich hatten polnische Feministinnen Twardoch vorgeworfen, Frauen nur als willige Gegenstände zu beschreiben. Daraufhin sprang ihm jedoch eine andere feministische Gruppierung zur Seite und erklärte, die Frauen seien die eigentlich handelnden Personen in diesem imposanten Romanfresko. Twardoch erklärt selbst, dass seine Männer „nicht wirklich erwachsen geworden sind“, und der Zorn auf die weiblichen Verführungskünste scheint denn auch einem tiefen Hass auf die übermächtige Mutter entsprungen zu sein. Psychoanalytische Überlegungen sind für ihn Teil seines Opus.
Der Erfolg des Romans in Polen mag verwunderlich sein, weil Twardoch das polnische Offizierskorps der Vorkriegsjahre als eine dekadente und letztlich feige Bande beschreibt. Aber auch in Polen beginnt sich der Blick auf den Krieg und die eigene Rolle deutlich zu verändern. Die Entschlossenheit bis zur Obszönität, mit der er Licht auf nationale Tabus wirft, die fulminante Stimme, mit der er durch die gesellschaftlichen Eingeweide – in denen Katholizismus, Nationalismus und ein allgegenwärtiger Opportunismus das Wort führen – brutal durchpflügt, nötigt Respekt ab. „Morphin“ ist stilistisch voller Unebenheiten und dramaturgischer Ecken und Kanten, aber der Roman besitzt Wucht. Twardoch verfügt über das Stehvermögen eines Autors, der zu fabulieren versteht, dem es gelingt, ein historisches Panorama aufzuspannen und doch in den Details an Tisch und Bett packend und sinnlich Präsenz zu zeigen. Immer will man wissen, was aus Konstanty im Malstrom der Kriegsereignisse und den Quadraturen seiner Frauen wird. Sylvester Groth besaß dafür die Stimme, die Sex und Gewalt wie Filmbilder vor den Augen der Besucher vorbeiziehen ließ. Das Publikum verharrte denn auch gebannt bis in den späteren Abend bei der Lesung. Dass es unterm Strich 100.000 Festivalbesucher waren, die zu den Lesungen strömten, wundert dann nicht mehr.
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